Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Kienzle Apparate – eine neue Unternehmensstrategie

geschrieben am: 21.01.2017 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Kienzle Apparate

In der Betriebsversammlung am 29.11.1961 wies Jochen Kienzle auf das erfolgreiche Büromaschinenprogramm des Unternehmens hin und stellte aber gleichzeitig fest, dass die stürmische Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik nachlasse. Die Kostenfrage werde für den Betrieb immer wichtiger.1

Büromaschinenfertigung (Bild: StAVS)

Büromaschinenfertigung (Bild: StAVS)

Der Übergang vom mechanischen zum elektronischen Rechner verlief auch bei Kienzle nicht ganz reibungslos. 1960 hätte es bei Kienzle Apparate „21 grundverschiedene Systeme, die auf die verschiedenen Konstruktionsgruppenleiter zurückgingen, gegeben. Diese historisch gewachsene Struktur sei „unsystematisch, unübersichtlich und ineffektiv“ gewesen. In Kombination mit Konstruktionsfehlern bei Neuentwicklungen führte dies zu Reklamationen und Lieferausfällen. Die mittel- und langfristige Produktplanung musste dringend umgestellt werden. „Bis dahin herrschte die Meinung vor, dass die Konstrukteure neue Ideen aus sich selbst heraus entwickeln würden. Die Krise zeigte aber, dass Produktplanung nur in enger Kooperation zwischen den  technischen Abteilungen im Werk und den Vertriebsvertretern mit ihren Erfahrungen aus den Kundenkontakten funktionieren könne.“2

1962 arbeiteten im Villinger Werk 2585 Personen.3  1963 zählte das Villinger Werk 2681 Beschäftigte. Zum 1.1.1964 wurde die wöchentliche Arbeitszeit auf 41 ¼  Stunden verkürzt.

Bereits 1963 gründete Kienzle-Apparate einen Entwicklungsausschuss Büromaschinen (EAB).4

Ursache war die Elektronik nach Meinung der EAB-Mitglieder. Bei Kienzle habe es Ende der 50er Jahre den Beginn eines Strukturwandels gegeben.

Bis zur Erfindung des Transistors 1952 beherrschte die Mechanik den Markt. Die neuen Bauelemente ermöglichten ein günstigeres Preis-Leistungs-Verhältnis. „Nun aber gab es kleine, robuste Bauelemente, mit deren Hilfe Elektronenrechner auch für den Klein-und Mittelbetrieb entwickelt werden konnten, die ein günstiges Verhältnis zwischen Kosten und Leistung boten.“

Im EAB sollte nun zukünftige Produktpolitik entworfen werden. In diesem Ausschuss waren Vertreter der Marktforschung, Produkt- und Systemplanung sowie technische Experten vertreten, die Konzepte entwickelten für zukünftige Produkte/ Produktlinien. Ein solches Vorgehen war schon deshalb nötig, weil „auf dem Markt für elektronische Datenverarbeitungsanlagen … ein sehr scharfer Wettbewerb [herrschte] und es ist nicht möglich [war], auf  lange Sicht einen großen Vorsprung zu halten. Man [musste sich] permanent … bemühen, eine Spitzenstellung einzunehmen, sich einen guten Namen zu erwerben, ihn zu erhalten und zu verteidigen.“5

In der Lücke zwischen den klassischen (mechanischen)  Buchungsmaschinen und der EDV  (den Großrechnern) sah Kienzle-Apparate nun konsequent seine Zukunft. Man müsse „nun kompromisslos in die Computertechnik hineingehen.“ Für den Bereich, für den Kienzle produzierte, wurde der Begriff  der Mittleren Datentechnik (MDT) erfunden. Hier  ging es um Datenverarbeitung für mittlere Datenmengen. Zielgruppen dieser Systeme waren die Banken, die öffentlichen Verwaltungen und die mittelständische Industrie.

Heinz H., dessen Chef Heinz Beyer ein wichtiges Mitglied im EAB war, erinnert sich: „Die mechanischen Büromaschinen, das waren ja die ersten Produkte im sog. B-Bereich. Dann kam die Entwicklung hin zur Elektronik und damit kamen auch neue Wettbewerber.  Da musste Kienzle sich sagen, da müssen wir mitziehen, denn die mechanischen Buchungsmaschinen können auf lange Frist keinen Erfolg haben. Da gab es Kollegen, die mich dann ziemlich ruppig angefahren haben, weil ich im Marketingbereich tätig war. Also in der Produktplanung. Für uns war es klar, wir müssen so langsam die Mechanik verlassen. Wir müssen unsere Mitarbeiter umschulen. Da gab es Leute, sehr tüchtige Mechaniker, die diese Buchungsmaschinen gemacht haben, die sich beschwerten: ‚Wie könnt Ihr diese mechanische Maschine aufgeben? ‘  Die Mechaniker, die  diese mechanischen Buchungsmaschinen produziert haben und damit groß geworden waren, die kamen und sagten, ‚das kann doch nicht wahr sein! ‘  Die haben das nicht verstanden.“6

Die Halbleitertechnik und der Transistor erlaubten es nach der Vorherrschaft der Großrechner, kleinere, kompakte Rechner zu bauen. Bei Kienzle hatte man deshalb bereits 1960 „einen halbelektronischen Abrechnungsautomaten“ im Angebot. Erst der Computer 800 war angeblich  ein echter Elektronenrechner. „Mit diesem System konnten organisatorische Lösungen angesteuert werden, von denen man kurz zuvor nicht zu träumen wagte, es sei denn man verfügte über eine EDV-Anlage großen Stils, ein ’Elektronengehirn‘ mit all seinem mystischen Zauber.“ Bei Kienzle begann damit die  Zeit der „Codierer, Programmierer, Datenverarbeitungskaufleute [und] Computer-Service Techniker“. 1968 folgte auf das System 800 der Kienzle –Computer 6000, vom Handelsblatt als „bedeutendste Neuheit“ auf dem Gebiet der mittleren Datentechnik begrüßt.

Kienzle-Apparate war aktiv ins politische Leben der die Stadt Villingen integriert.  1965 saßen drei Betriebsangehörige im Villinger Gemeinderat: der Syndikus und Prokurist Josef Zieglwalner, E. Beha aus der Musterwerkstatt und Verkaufsdirektor P. Riegger.7

Im Bereich des Hauptamtsbezirks des Arbeitsamts Villingen arbeitetet 1966 3274 Ausländer. Bei Kienzle-Apparate waren rund 230 Ausländer unterschiedlicher Nationalitäten beschäftigt, was etwa 10 Prozent der Lohnempfänger entsprach.8

Nach der Wirtschaftskrise von 1967 nahm Kienzle-Apparate mit seinen Büromaschinen einen ungebrochenen Aufschwung. Die Umsätze stiegen wieder.9

Die neuen Modelle der Klassen 5000 und 6000 erwiesen sich auf der Hannover-Messe als Renner.

Das Unternehmen expandierte und brauchte deshalb neue Gebäude. Diesen Ausdehnungswünschen wurden von der Stadtverwaltung nicht immer so entgegengekommen, wie sich das Unternehmen dies erwartet hätte. Was die Geschäftsführung zu folgender Stellungnahme veranlasste: „ Die Stadt [Villingen] lebt zum erheblichen Teil von einer gut florierenden heimischen Industrie. Doch kann sich dieses Gemeinwesen nicht darauf beschränken, hohe Gewerbesteuern zu kassieren und die arbeitsfähige Bevölkerung in der Vollbeschäftigung zu sehen: Die Stadt muß auch ihrerseits dazu beitragen, den Wachstumswünschen dieser Industrie Rechnung zu tragen. Dies denjenigen, die es an- geht, ins Stammbuch.“10

1968 war die Wirtschaftskrise überstanden. Im Frühsommer besetzten die Studenten Räume der Sorbonne in Paris.11

Auch in Deutschland gab es Studentenunruhen und die Bildung einer außerparlamentarischen Opposition.12  Diese Entwicklungen lösten auch im Schwarzwald Ängste aus. So stellte Jochen Kienzle in der Betriebsversammlung 1968 fest: „Innerhalb unseres Betriebes konnten bislang alle Probleme zwischen Belegschaft und Unternehmensführung nicht zuletzt dank einer für alle Probleme verständnisvoll aufgeschlossenen Belegschaftsvertretung in gutem Einvernehmen gelöst werden. Wir haben uns gegenseitig auch für die Zukunft dieser vertrauensvollen Zusammenarbeit versichert.“

1969 waren im Stammwerk Villingen  3165 Menschen beschäftigt, 45 Prozent Angestellte und 55 % Arbeitnehmer. Das Unternehmen bildete 170 Lehrlinge aus in allen Sparten des  Betriebes. Bewährte Arbeiter konnten bei Kienzle einen sogenannten verbesserten Arbeitsvertrag erhalten, was bedeutete, dass im Krankheitsfalle wie bei Angestellten der Lohn weiter gezahlt wurde. 45 Arbeiter wurden wegen ihrer qualifizierten Tätigkeit ins Angestelltenverhältnis übernommen. Außerdem wurden der  Dr. Herbert-Kienzle-Unterstützungskasse jährlich große Summen überwiesen. Am 4. 12. 1968 hatte das Villinger Werk 3 173 Mitarbeiter. 37 Prozent, das entsprach 1967 Beschäftigten, waren Einpendler.13

Die Gesamtbelegschaft bei Kienzle nahm von 1961 bis 1971 um 1100 auf 4400 Beschäftigte zu. In dieser Zeit sank der Anteil der Arbeiter um 12 Prozent, die Angestellten nahmen um 10,5 Prozent zu. Auch der Anteil der Frauen stieg von 20,1 % auf 25,7 %.14

Stolz konnte Jochen Kienzle 1969 von einem Umsatzplus von 14,3 % berichten. Durch die Produktionssteigerung bei Autos nahm auch der Umsatz bei Fahrtenschreibern wieder zu, auch Parkuhren liefen gut. Bei den Taxametern hingegen war der Umsatz rückläufig, gleiches galt für die Preisrechner. Die großen Mineralölfirmen seien sehr investitionsunlustig. Für die Messschreiber  versprach sich Kienzle durch neue Entwicklungen auch für die Zukunft gute Verkaufserfolge.

Hannover-Messe 1966. Bundespräsident Heinrich Lübke am Kienzle-Stand (Bild: StAVS)

Hannover-Messe 1966. Bundespräsident Heinrich Lübke am Kienzle-Stand (Bild: StAVS)

Besonders erfolgreich war der Bereich der Büromaschinen. „Die elektronische Datenverarbeitung … sei seit der Erfindung der Dampfmaschine der wohl größte technische Fortschritt“, bemerkte der Geschäftsführer. Die Geräte-Klassen 5000 und 6000 hätten auf der Hannover-Messe bewiesen, daß Kienzle auf dem richtigen Weg sei mit seiner mittleren Datentechnik. Trotz hartem Wettbewerb sah Jochen Kienzle zuversichtlich in die Zukunft, wenn das Unternehmen streng auf seine Wirtschaftlichkeit achte.15

Obwohl das Unternehmen sich sehr um seine Mitarbeiter bemühte, wurden auch immer wieder Mitarbeiter abgeworben, weshalb in den Kienzle-Blättern betont wurde, wie stolz der einzelne sein könne, in einem solchen Unternehmen mit Weltruf mitarbeiten zu dürfen.16

Auch das Jahr 1969 zeichnete sich durch erhebliche Umsatzsteigerungen der Kienzle-Produkte aus. Leider stiegen mit dem Umsatz auch die Kosten.

  1. Kienzle-Blätter Nr. 5 1961,  S. 11 ff []
  2. Armin Müller,  S. 87-89 []
  3. Kienzle-Blätter 1962 Nr. 4, S. 15 []
  4. Kienzle-Blätter 1/1973. H.A. Zehn Jahre EAB – erfolgreiche Zukunftsplanung S. 2-4 []
  5. A.a.O. S. 4 Jochen Kienzle in der Betriebsversammlung. []
  6. Heinz H. Interview vom 14.8.2015 []
  7. Kienzle-Blätter 1965 Nr. 4, S. 23 []
  8. Kienzle-Blätter 1966 Nr. 3, S. 48 []
  9. Kienzle-Blätter 1968 Nr. 2, S. 13 Jochen Kienzle sprach zu den Jubilaren. []
  10. A.a.O. S. 17 []
  11. Diese Aktion führte zu Unruhen die sich über ganz  Frankreich ausweiteten und anschließend auch auf Unternehmen übergriffen. „Am Donnerstag, dem 16. Mai, waren 50 Unternehmen besetzt, am nächsten Tag streikten 200.000 Arbeiter. Fast die gesamte Metall- und Chemieindustrie war betroffen. Am Samstag breiteten sich Streiks und Fabrikbesetzungen rapide aus; an ihnen beteiligten sich etwa 2 Millionen Menschen. Frankreich erlebte den ersten „wilden Generalstreik“ der Geschichte; er zog sich fast einen Monat hin.“  (Wikipedia) []
  12. Seit 1966  regierten in Bonn Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt. Ab 1969 bis 1972 die Regierung Brandt Scheel. []
  13. A.a.O. S. 31 []
  14. Kienzle-Blätter 4/1971, S. 7 []
  15. Kienzle-Blätter 4/1968,  S. 4-8 []
  16. Kienzle-Blätter 2/1969 S. 19 []

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