Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Region des wirtschaftlichen Rückstands

geschrieben am: 16.12.2019 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Strukturwandel und Arbeitslosigkeit

Rückgang der Einwohnerzahlen

Einwohnerzahlen Villingen-Schwenningen 1961 - 1989

Einwohnerzahlen Villingen-Schwenningen 1961 – 1989

Ein zweiter Ölpreisschock machte sich  ab 1980 auf den einheimischen Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Arbeitslosenquote stieg wieder an, jetzt von 2,1 Prozent im Jahr 1980 auf 7,6 Prozent im Jahr 1983.1  Sie blieb bis 1991 auf relativ hohem Niveau und sank in der ganzen Zeit nie unter 3,9 Prozent. Der Schwarzwald-Baar-Kreis verlor von 1974 bis 1985  rund 13 000 Einwohner. In Villingen-Schwenningen betrug der Einwohnerverlust zwischen 1973 und 1987  6233 Personen oder rund 7,5 Prozent  der Bevölkerung2  . Zwischen 1980 und 1987 verließen 2 700 Personen, darunter 1600 Ausländer die Stadt.3  

Die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im Arbeitsamtsbezirk Villingen-Schwenningen fiel 1983 unter das Niveau von 1977 und blieb hinter der baden-württembergischen Entwicklung zurück.4

Region des  wirtschaftlichen Rückstands

Vor allem junge Menschen zogen weg, weil sie in der Region keine Perspektive mehr sahen, dagegen nahm die der Rentner und Pensionäre zu.

Beschäftigte in der Metallindustrie 1974 bis 1998

Beschäftigte in der Metallindustrie 1974 bis 1998

Wer nicht weg zog, nahm manchmal lange Fahrten zum Arbeitsplatz in Kauf. So sind für 1992 „über 700  Bewohner aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis“ nachgewiesen, die „ ihren Arbeitsplatz in Stuttgart und der Region mittlerer Neckar“ hatten.5

Die Wirtschaftskraft der Region „verharrte“ bei 90 % des Landesdurchschnitts, Die Beschäftigungszahlen stagnierten, die Summe der Löhne und Gehälter von 1980 wurde erst 1985 wieder erreicht, die Gesamtumsätze von 1980 erst  wieder 1988.6

Die niedrigen Einkommen waren auch die Ursache,  dass gerade Höherqualifizierte abwanderten.7

Die Region hatte ein „Image des wirtschaftlichen Rückstands entwickelt.“ Besonders betroffen war die Stadt Villingen-Schwenningen, weil hier Wirtschaftsbereiche stark waren, wie Feinmechanik, Uhrenindustrie und Unterhaltungselektronik,  die mit den Auswirkungen des Strukturwandels kämpfen mussten.8  . Auffallend war im Vergleich zum übrigen Baden-Württemberg auch der niedrige Anteil an Facharbeitern.

Konjunkturellen Erholung 1984 bis 1990

Ab 1983 stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten bis 1992 im Schwarzwald-Baar-Kreis  um rund 13 Prozent von 74079 auf 83 8979  .  Diese Zunahme der Beschäftigten wurde begleitet von einer Verschiebung zwischen den  Wirtschaftssektoren.  Das produzierende Gewerbe war 1992 mit einem Anteil von  54 % im Arbeitsamtsbezirk  immer noch sehr stark.

Die Arbeitsplätze in der Uhrenindustrie nahmen von 1983 bis 1993 um weiter 30,6 Prozent ab. In der Kunststoffverarbeitung verdoppelten sich hingegen die Arbeitsplätze.

Die meisten Beschäftigten mit über 14 813 Personen bzw. einem Anteil von 32,4 Prozent am produzierenden Gewerbe  arbeiteten 1992 im Bereich EDV-Anlagen, Büromaschinen und Elektrotechnik.10

Hier stagnierte aber die Produktion zwischen 1982/83 und 1988 wie das Beispiel Mannesmann-Kienzle zeigt. Gekennzeichnet war diese Phase durch eine weitere Hinwendung zur Mikrotechnik und Mikroelektronik und Kunststoffverarbeitung. Die  Monostrukturierung der Region schien beendet.11

Auslagerungen unternehmerischer Entscheidungen

Der Dienstleistungsbereich im Arbeitsamtsbezirk nahm durchweg zu.12  Durch die Firmenübernahmen bei Saba durch Thomson Brand und bei Kienzle Apparate durch Mannesmann kam es zu „Auslagerungen unternehmerischer Entscheidungszentren“.13  Dies bedeutete, dass die Bedürfnisse der Region bei den Unternehmensentscheidungen nicht mehr berücksichtigt wurden.14  Was ein weiteres Risiko für den Erhalt von Arbeitsplätzen nach der Einschätzung des ehemaligen  Ministerpräsidenten Erwin Teufel darstellte:   „Die Weltfirmen  reagieren sehr schnell auf Konjunkturschwankungen, bauen rigoros Arbeitsplätze ab, und [zwar] … außerhalb der Zentrale in Bereichen, die sie irgendwo dazu gekauft haben. … Das war natürlich nicht gut, dass das ausländische große Firmen waren, die beim ersten Säuseln der Wirtschaftskrise die Filialen abgebaut und am Ende … mehr oder weniger geschlossen haben.“15  Viele mittelständische Betriebe  verzichteten vermehrt auf eine komplette eigene Herstellung ihrer Produkte, Vorprodukte und Teile wurden zugekauft.  Dies führte zum einen dazu, dass ganze Betriebsteile z.B. an ehemalige Mitarbeiter verkauft wurden und grundsätzlich keine Arbeitsplatzverluste bedeuten musste. Oft wurden die benötigten Teile aber aus anderen Regionen zugekauft, was Arbeitsplätze dann wieder reduzierte.16  Die Region wurde zur Region der Zulieferer für den Motoren- und Fahrzeugbau, (ca. 75 Prozent),17  einem Wirtschaftsbereich, der  aufgrund des Kostendrucks durch die Automobilfirmen stark rationalisiert war, was weitere Arbeitsplätze gefährdete.18  Die Prognos AG Basel stellte 1990 kritisch fest, der Mittelstand orientiere sich nur kurzfristig, unterlasse Innovationen. Es fehle Verknüpfung von Produktentwicklung und Marketing.19

Die Wirtschaftsstruktur der Region verändert sich

Die Wirtschaftsstruktur in Villingen-Schwenningen war  zwischen 1983 und 1992 heterogener geworden. Die Zahl der Arbeitsplätze hatte sich verringert, die Qualität der Arbeitsplätze sei aber besser geworden, der Fachkräftebedarf gestiegen. Die Nachfrage nach An- und Ungelernten nahm ab,  dafür nahm die Beschäftigung von Angestellten und Ingenieuren zu.  Es gab Facharbeitermangel, weil die heimischen Betriebe zu wenig ausbildeten.20

Die Region hatte mit ca. 32 Prozent Facharbeiteranteil in der Metallindustrie die geringste Facharbeiterdichte in Baden-Württemberg, zum Vergleich: in Ulm betrug die Facharbeiterdichte 55 Prozent und in Friedrichshafen 56 Prozent.21  Zwischen 1986 und 1992 musste das Arbeitsamt sich mit einer deutlich zurückgehenden Ausbildungsneigung der Betriebe auseinandersetzen22  , dafür machten jetzt mehr Jugendliche höhere Bildungsabschlüsse. Waren es 1980 noch fast die Hälfte aller Schulabgänger, die einen Hauptschulabschluss hatten, so waren es 1992 noch 37,8 Prozent, fast 30 Prozent schlossen jeweils mit der Realschule bzw. dem Abitur ihre Schullaufbahn ab.23

Immer mehr Jugendliche strebten höhere Bildungsabschlüsse an24  und fielen damit dem Arbeitsmarkt für mehrere Jahre nicht mehr zur Last25  . Der Rückgang der Schulabgänger durch geburtenschwächere Jahrgänge ab 1985 entspannte die Lage auf dem Ausbildungsmarkt weiter.26

Investitionen in Bildung

Ministerpräsident Erwin Teufel (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Ministerpräsident Erwin Teufel (Stadtarchiv Villingen-Schwenningen)

Viele Hoffnungen wurden 1988/89 in den Aufbau der Hochschul-Außenstelle Villingen-Schwenningen mit 35 Studenten gesetzt. Die angebotenen Studiengänge waren zukunftsweisend (Werkstoff- und Oberflächentechnik, Bioingenieurwesen, Maschinenbau/ Automatisierungstechnik). Für den damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel stellte sich die Situation in diesen Jahren folgendermaßen dar: Das Land könne in die Wirtschaft nur über die Bildungspolitik eingreifen. In dieser Zeit seien viele berufliche Gymnasien eingerichtet und damit viele junge Menschen zu einer Hochschulreife gebracht worden.  Weitere Maßnahmen waren bereits 1976 die Einrichtung einer Berufs Akademie in Villingen-Schwenningen.  Die Zeit der Hochschulgründungen war als die Strukturkrise begann leider vorbei, es gelang aber die Fachhochschule für die Polizei hierher zu bringen. Für Erwin Teufel war es wichtig,  dass anwendungsbezogene Forschung für die mittelständischen Betriebe in der Region zur Verfügung stand. „ Dann haben wir dieses Forschungsinstitut gegründet. … 50 Millionen sind in dieses Forschungsinstitut nach Villingen-Schwenningen geflossen. Ausschließlich mit der Zielsetzung … Forschung für den Mittelstand [zu betreiben] … Indirekt und langfristig führten diese Innovationen natürlich auch zu Arbeitsplätzen… Ich glaube, dass neben der Hauptaufgabe [der Bildung] die Ausbildung junger Leute … langfristig gesehen, über ein, zwei Generationen betrachtet, auch die Auswirkungen [dieser Maßnahmen auf den Arbeitsmarkt] noch sehr viel deutlicher sichtbar“ macht.27

Einstieg in die 35-Stunden-Woche 1984

1984 besserte sich die Lage der heimischen Industrie. Der Verlust der Arbeitsplätze veränderte die gewerkschaftlichen Ziele der IG Metall in der Region erheblich. Wichtiges Ziel wurde der Erhalt der Arbeitsplätze. Dies versuchte man durch die Reduzierung der Arbeitszeit zu erreichen. Im Frühjahr 1984 begann die IG Metall in der Region mit dem Kampf um die 35 Stunden-Woche. In Nordwürttemberg-Nordbaden und in Hessen wurde sieben Wochen lang gestreikt. 158 Kolleginnen und Kollegen der Region stellten sich als Streikposten vor der Fa. Behr in Mühlacker zur Verfügung.28

Die Tarifverhandlungen zwischen der südbadischen Metallindustrie und den Gewerkschaften in Bad Dürrheim wurden begleitet von kurzen Arbeitsniederlegungen in den Villinger Metallbetrieben. 1000 Gewerkschafter vor dem Haus des Gastes in Bad Dürrheim hatten Transparente mit folgenden Aufschriften dabei: „Die Sauerei ist riesengroß, drei Millionen arbeitslos“ oder „Lieber auf die Straße gehen, als bei Stingl Schlange stehen.“

Der Arbeitgebervertreter Eisele  war überzeugt, die 35-Stunden –Woche bedeute für die Unternehmen durchschnittlich eine Lohnerhöhung von 14,3 Prozent und 4,5 Prozent Steigerung der Fixkosten durch unausgelastete Maschinen. Deshalb würden keine Leute eingestellt werden, sondern nur weitere entlassen.29

Individualisierte Tarfifverträge

Der ausgehandelte Kompromiss schließlich brachte ab dem 1. April eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden. Erkauft wurde dieses Ergebnis durch flexible Regelungen, die es im Wesentlichen den einzelnen Betrieben überließen, wie sie die Kürzung der Wochenarbeitszeit umzusetzen gedachten.30

Die IG Metall versprach sich von dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche  die lang erhoffte Trendwende auf dem Arbeitsmarkt31 .

Durch die verschiedenen Entlassungswellen und Konkurse musste die IG Metall, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, eine Vielzahl unterschiedlichster betriebsspezifischer Lösungen entwickeln. Die Regelungskompetenzen der Tarifparteien wurden dadurch mehr und mehr dezentralisiert32  und von den Geschäftsführern, Betriebsräten und örtlichen Gewerkschaftsfunktionären wahrgenommen.

Ab dem 26. April 1985 konnten Arbeitnehmer auf Grund des Beschäftigungsförderungsgesetzes befristet eingestellt werden und Leiharbeit bis zu 6 Monaten ausgedehnt werden.33

  1. SAVS 5.22 VS 791, Arbeitsamt Villingen-Schwenningen: Strukturbericht 1993. S. 71/ 72. []
  2. Ebd. S. 24 Bevölkerungsentwicklung im Schwarzwald-Baar-Kreis (Arbeitsamtsbezirk Villingen-Schwenningen) und im Land Baden-Württemberg []
  3.  Ebd. S. 11 []
  4. Ebd. S. 35 []
  5. Ebd. S. 64 []
  6. Ebd. S. 10 []
  7. Prognos AG (Hrsg.) Untersuchung zur wirtschaftlichen und strukturellen Situation der Stadt Villingen-Schwenningen. Stärken/ Schwächen-Analyse, Leitbild und Massnahmenprogramm, im Auftrag der Stadt Villingen-Schwenningen. Basel Mai 1990,  S.  16, Strukturbericht, S. 43 []
  8. Ebd.  S. 16 []
  9. Strukturbericht 1993, S. 37 []
  10. Ebd. S. 40 []
  11. Prognos AG,  S. 18 []
  12. Strukturbericht 1993, S. 43 []
  13. Prognos , S. 12 []
  14. Ebd. S. 20 []
  15.  Interview mit Erwin Teufel v. 22.4.2014 []
  16. Prognos AG (Hrsg.) Untersuchung zur wirtschaftlichen und strukturellen Situation der Stadt Villingen-Schwenningen. Stärken/ Schwächen-Analyse, Leitbild und Massnahmenprogramm, im Auftrag der Stadt Villingen-Schwenningen. Basel Mai 1990 []
  17.  Ebd. S. 19 []
  18. Ebd. S. 37 []
  19. Ebd. S. 21 []
  20. Ebd. S. 22 []
  21. Ebd. S. 23 []
  22.  Strukturbericht 1993,  S. 47 []
  23. Ebd. S. 46 []
  24.  Doering-Manteuffel, Anselm / Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2012, S. 56 []
  25. Strukturbericht 1993,  S. 46 []
  26. Ebd. Tabelle Schulabgänger im Arbeitsamtsbezirk Villingen-Schwenningen, S. 46 []
  27.  Interview mit Erwin Teufel v. 22.4.2014 []
  28. IG Metall Verwaltungsstelle Villingen-Schwenningen: Geschäftsbericht 1984-1985- 1986, S. 27 []
  29. Badische Zeitung, 17.3.1984, Arbeitnehmer unterstrichen Forderung nach 35-Stunden-Woche. Über 1000 gingen auf die Straße. []
  30. Südkurier v. 17.4.1985, Arbeitszeitverkürzung weitgehend durchgesetzt. []
  31. Südwest-Presse NQ v. 4.7.1985 „Neue Arbeitsplätze geschaffen.“ Badische Zeitung v. 5.Juli 1985.  38,5 – Stunden-Woche schuf Arbeitsplatze. []
  32. Schroeder, Wolfgang und Greef, Samuel: Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom. S. 245 -270. In: Doering-Manteuffel, Anselm/ Lutz,  Raphael/ Schlemmer, Thomas (Hg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen 2016 .S. 261 []
  33. IG Metall Geschäftsbericht 84 – 86, Entschließung v. 10 Mai 1984 []

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