Arbeitskampf 1963: Urabstimmung und Ankündigung
Die Urabstimmung
Am 18. 4. 1963 wurden die Schwenninger Arbeitnehmer zur Urabstimmung aufgerufen. „Bist Du bereit, zur Verhinderung des von den Arbeitgebern geforderten Lohnstops bis zum31. Juli 1963 und für die Durchsetzung unserer achtprozentigen Lohnforderung mit allen gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen einschließlich der Arbeitsniederlegung einzutreten?“
Am Vorabend der Urabstimmung waren die verantwortlichen Funktionäre der einzelnen Betriebe von der IG Metall eingeladen worden, um sie über den Ablauf der Abstimmung zu informieren. Wahlurnen, Stimmzettel und Stempel für den Eintrag ins Mitgliedsbuch wurden verteilt, damit man am frühen Morgen mit der Abstimmung beginnen konnte.
Mit dem Flugblatt „Heraus zur Urabstimmung“ versuchte die IG Metall ihren Mitgliedern noch einmal die wichtigen Argumente, die zur Verhärtung der Fronten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern geführt hätten, nahezubringen. Jede ja-Stimme sei „ein Protest gegen den Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, Herrn Leuze, der sich eindeutig für den Lohnstop erklärt und damit zum Sprecher der Unternehmerinteressen geworden sei.“ Angeführt wurden die steigenden Dividenden der deutschen Metallindustrie. „Seid einig und geschlossen in der Abwehr eines Lohnstops.“ Noch am Morgen der Urabstimmung erschienen Zeitungsanzeigen und ein weiteres Flugblatt.
Insgesamt verlief die Urabstimmung in Schwenningen ohne Zwischenfälle. Nur ein Schwenninger Betrieb ließ die Urabstimmung im Betrieb nicht zu, und machte von „der Anweisung der Arbeitgeberseite (Gesamtmetall) Gebrauch … die Urabstimmung zu verbieten“, weshalb die Urnen vor der Fabrik „unter freiem Himmel“ aufgestellt wurden. „Ohne besondere Vorkommnisse wählten die für die Urabstimmung ausgesperrten“ IG Metall- Mitglieder gegen 9 Uhr auf der Straße, nachdem man sie durch eine weiteres Flugblatt der IGM-Ortsverwaltung aufgefordert hatte, ihrer Pflicht auf diesem ungewöhnlichen Wege zu genügen.“ ((StAVS Chronik 799, Arbeitskampf 1963, NQ v. 19.4.1963 „Willensbildung frei zustande gekommen“))
K. Stein, Betriebsrat bei der Firma Fr. Benzing, erinnerte sich: „Bei der Firma Benzing war die Situation auch etwas anders. 1963 war der junge Chef in die Firma gekommen und hat zeigen wollen, was für ein Kerl er ist. Wir mussten die Urabstimmung vor dem betrieb durchführen, weil er sie im Betrieb verboten hat. Um 9.00 Uhr haben wir einen wackeligen Tisch aufgestellt und haben die Urabstimmung durchgeführt. Die Presse war natürlich auch dabei.“ ((Ingeborg Kottmann, Der Große Streik in Schwenningen 1963. Blätter zur Geschichte der Stadt Villingen-Schwenningen 1/96, S.7))
82 Prozent der stimmberechtigten 5928 IG-Metall-Mitglieder in 45 Schwenninger Betrieben stimmten bei der Urabstimmung mit Ja. In der Firma Jauch und Schmid waren es 93 Prozent, bei Johann Jäckle stimmten 75,6 Prozent mit ja. Bei Kienzle Uhren 76,3 Prozent, bei Mauthe 82,5 Prozent, bei Steinel 82,2 , bei Gustav Strohm 88 Prozent, Müller –Schlenker 85,6 Prozent. ((StAVS Chronik 799, NQ v. 19.4.1963 Willensbildung frei zustande gekommen.)) 99 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in 37 Schwenninger Betrieben hätten an der Urabstimmung teilgenommen, 81 Prozent hätten sich für „Kampfmaßnahmen ihrer Gewerkschaft ausgesprochen. (( StAVS Chronik 799 NQ. V. 25.4.1963 Am Vorabend eines Lohnstreiks.))
Da aber nur die Gewerkschaftsmitglieder sich an der Abstimmung beteiligen konnten, stimmten nach Schätzungen der Tagespresse etwa 50 Prozent der rund 8000 Schwenninger Beschäftigten für Streik.
Beginn des Streiks in Schwenningen
„Am 24. Und 25. April [teilten] die gewerkschaftlich organisierten Betriebsräte zahlreicher Schwenninger Betriebe [ihren] Geschäftsleitungen mit, daß die IG Metall am 29. April den Betrieb bestreiken werde und Schwenningen für einen allgemeinen Schwerpunktstreik ausersehen sei.“ Nach Unterlagen des Verbands der deutschen Uhrenindustrie waren die Arbeitgeber von dieser Nachricht überrascht, „ da angesichts der schlechten Wirtschaftslage der Uhrenindustrie, die im Raum Schwenningen – Rottweil- Schramberg dominiert [e], mit einer solchen Maßnahme … nicht gerechnet wurde.“ ((StAVS 4.9-691 Schreiben der Schwarzwälder Uhrenindustrie e.BV. Schwenningen a.N. an den Verband der Metallindustrie von Südwürttemberg-Hohenzollern in Reutlingen (insg. 4 Seiten). ))
Am 26. April kamen die 31 Firmenchefs der in Schwenningen betroffenen Unternehmen vormittags zusammen, um über Gegenmaßnahmen zu beraten. „Die Meinung herrscht[e] vor, es werde der Gewerkschaft mittels der Streikposten gelingen, den Streik zum Erfolg zu führen.“
Die Arbeitgeber gingen davon aus, dass die Metallunternehmen in Schramberg und Rottweil im wesentliche von den Arbeitskampfmaßnahmen verschont würden, weil man glaubte, die Ausgangssituation d. h. der Organisationsgrad der Beschäftigten, sei für die IG Metall in diesen Betrieben eher schlecht, weil sehr niedrig. Deshalb müsse die IG Metall hier nach Ansicht der Unternehmer einen Misserfolg erleiden. Die Unternehmer waren sich einig;“ daß im Interesse der gesamten Metallindustrie auf den Streik binnen kurzem mit der Generalaussperrung geantwortet werden“ müsse. Trotzdem erschien es den versammelten Firmenchefs erstmal sinnvoll „den Versuch zu machen, den Streik zum Scheitern zu bringen.“ „Noch am gleichen Tag [erhielten] die Arbeitnehmer der betroffenen Betriebe [von ihren Unternehmern] einen Mitarbeiterbrief, in dem sie zur Arbeit aufgefordert und auf die Folgen der Streikbeteiligung hingewiesen w[u]rden.“ ((a.a.O.))
Der Arbeitskampf in der baden-württembergischen Metallindustrie begann am Montag, den 29. April 1963 um 0.00 Uhr. Die IG Metall hatte ganz bestimmte regionale Schwerpunkte für die gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen ausgesucht. So wurden alle Betriebe in Mannheim bestreikt, einzelne Betriebe in Stuttgart und im Verwaltungsbereich Esslingen.
In Südwürttemberg-Hohenzollern wurde in allen Betrieben der beiden Städte Reutlingen und Schwenningen zum Streik aufgerufen. Diese beiden Städte waren deshalb ausgewählt worden, weil sie „konzentrierte industrielle Schwerpunkte in Südwürttemberg“ darstellten und weil hier auch „die gewerkschaftlichen Organisationen außerordentlich stark“ war.
In Schwenningen hatte die IG Metall sehr viele Mitglieder. Der Organisationsgrad in den Betrieben war überdurchschnittlich, so bei Irion & Vosseler 83,8 Prozent, Jauch & Schmidt 86,8, bei Kienzle Uhren 87,8, bei Mauthe 85,2 und Schlenker-Grusen 81,0 Prozent. (( A.a.O. Liste des Verbands der deutschen Uhrenindustrie))
Für die Industriestadt Schwenningen sprach außerdem, dass sich hier der Sitz des Verbands der deutschen Uhrenindustrie befand. ((StAVS Chronik 799 Schwabo v. 27.u. 28. April 1963. Streikbeginn am Montag um 0 Uhr.))
Der Schwarzwälder Bote sah in den Schwerpunktstreiks einen gewerkschaftlichen Versuch „zu testen inwieweit es dem Unternehmerverband Gesamtmetall Ernst [sei] mit seiner Ankündigung, auf einen Streik mit Aussperrung zu antworten.“
31 Metallbetriebe sollten in Schwenningen bestreikt werden, 15 Streiklokale wurden eingerichtet sowie eine Streikkundgebung für den ersten Streiktag auf dem Marktplatz vorbereitet.
Die IG Metall gab ein Merkblatt mit Anweisungen und Informationen für Streikende aus. Die Streikposten wurden unter anderem angewiesen, „alle Handlungen zu unterlassen, die sie mit dem Gesetz in Konflikt bringen [ könnten]. Insbesondere haben sie jede Gewalttätigkeit zu unterlassen, keinerlei Sachbeschädigungen zu verursachen, keine Verkehrsgefährdung herbeizuführen, Drohungen, Beleidigungen und Nötigungen zu unterlassen.“
Ein Streikbrecher, der trotz Aufklärung in den Betrieb wolle, dürfe am Betreten des Betriebs nicht gehindert werden. Außerdem bekämen Streikende von der Gewerkschaft Streikunterstützung. ((Schwabo v. 27./ 28. 4. 1963. 31 Metallbetriebe werden bestreikt. „Im Tarifgebiet Südwürttemberg-Hohenzollern wird in der gesamten Metallindustrie des Gebiets der Verwaltungsstelle Reutlingen der IG Metall und in 31 Schwenninger Metallbetrieben … gestreikt“… „Daß nicht im ganzen Tarifgebiet Südwürttemberg-Hohenzollern, sondern nur in Reutlingen und Schwenningen gestreikt wird, hat seine Grüne. Auch in den nördlichen Landesteilen wird nur in bestimmten Städten und dort in unterschiedlichem Umfang gestreikt. Die beiden Städte Reutlingen und Schwenningen sind industrielle Schwerpunkte im Tarifgebiet Südwürttemberg-Hohenzollern. In Schwenningen sind gute Organisationverhältnisse für die IG Metall vorhanden, und hier liegt die Zahl der in der IG Metall organisierten Arbeitnehmer weit über dem Durchschnitt. Schwenningen ist weiterhin Sitz des Verbandes der Schwarzwälder Uhrenindustrie, also eines der in Gesamt-Metall zusammengeschlossenen Arbeitgeberverbände.“))
Die letzten Vorbereitungen für den Streik wurden von der IG Metall am Vorabend des Arbeitskampfs in einer Funktionärsversammlung getroffen. Desgleichen hatten sich die Schwenninger Arbeitgeber am Vortag vormittags „zu einer Versammlung zusammengefunden, um die Situation zu besprechen.“
Ziel der Schwenninger Betriebe war es, möglichst viele arbeitswillige Mitarbeiter während des Arbeitskampfs im Betrieb halten, trotzdem wollte man sich aber die Option für eine Aussperrung offen halten. Die Gewerkschaften hingegen wollten möglichst viele Betriebe für die Zeit des Arbeitskampfes stilllegen und mit dieser öffentlichkeitswirksamen Aktion neue Mitglieder gewinnen und eine Tariferhöhung durchzusetzen.