Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Schwierige Verhandlungen mit dem Gemeinderat

geschrieben am: 01.12.2015 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Uhrenfabrik Kienzle

Die Gemeinderäte von Villingen-Schwenningen sind keine Mitarbeiter der Fa. Kienzle
Am 15. Februar 1984 trat Horst Rosenbaum in nichtöffentlicher Sitzung vor dem Gemeinderat der Stadt Villingen-Schwenningen auf. Oberbürgermeister Dr. Gebauer fasste zu Beginn die Lage zusammen. Das Wirtschaftsministerium habe zur Sanierung von Wigo Geld angeboten aber nicht genug. „Deswegen sei der Umweg über die Ausweisung eines Sanierungsgebietes in Stuttgart besprochen worden.“ Leider müsse die Angelegenheit „ innerhalb von 2 – 3 Wochen über die Bühne gebracht werden“. Falls das nicht ermöglicht werde, komme für Kienzle eine Übernahme von Wigo nicht in Frage. „Im Hintergrund stehe, daß die Landesregierung sage, es werde unbürokratisch und schnell entschieden, wenn die Stadt die Unterlagen vorlege. Es dürfe darauf hingewiesen werden, daß das Land in diesem Topf sehr viel Geld habe, aber es bestehe nicht die Bereitschaft, grenzenlos Geld auszugeben.“1

Horst Rosenbaum erinnerte die Stadträte im Anschluss an die Ausführungen des Oberbürgermeisters daran, dass es um Arbeitsplätze gehe.2
Kienzle müsse dringend umstrukturieren und wolle 20 bis 40 Millionen investieren. Für den geplanten Investitionsschub aber brauche Kienzle Sicherheiten. Das Land sei bereit Kienzle in den Landessanierungsplan aufzunehmen. „Dieser Plan würde bedeuten, daß die Kosten einer Verlagerung von Kienzle zu 2/3 vom Land und zu 1/3 von der Stadt getragen würden.“
Die Lage von Wigo verlange eine sehr schnelle Entscheidung. Die Landesregierung würde innerhalb von 24 Stunden den Plan genehmigen. Der Plan würde eben auch die 700 Arbeitsplätze bei Kienzle sichern.3
„Es könne gesagt werden, daß der Gemeinderat in 8 Tagen nicht mehr Informationen habe, nur gebe es in 8 Tagen keine Firma Wigo mehr.“ VS habe die einmalige Chance 2/3 Fördermittel zu bekommen und ein Unternehmen zu gewinnen, das „mehr als 30 Mio DM“ investieren wolle. „Diejenigen, die sich heute überfordert fühl[t]en, darüber eine Entscheidung zu treffen, müßten ganz klar die Verantwortung tragen.“4

Für die Stadträte war es besonders wichtig, dass die Arbeitsplätze garantiert würden. Dazu erklärte Rosenbaum: „Man dürfe nichts Unmögliches verlangen.“ Man sichere einen langfristigen Erhalt der Arbeitsplätze zu. „Wenn man umziehe, sei vorgesehen zu rationalisieren und dann komme der Verdacht auf, daß Rationalisieren weniger Leute bedeute. Diesen Saldo werde man durch neue Produkte abfangen, so daß aus der heutiger Sicht ganz klar eine langfristige Absicherung der Arbeitsplätze zugesagt werden könne.“5
Der Gemeinderat fand es außerdem erstaunlich, woher die Firma Kienzle die Gewissheit nehme, wie sich die Landesregierung verhalten werde. Worauf Rosenbaum antwortete: Kienzle habe „ständigen Kontakt mit der Landesregierung“. Diese warte nur auf die Entscheidung des Gemeinderats.6
Die anwesenden Gemeindevertreter sahen sich durch das Arbeitsplatzargument und die von der Firma geforderte Eile des Verfahrens stark unter Druck gesetzt. Schließlich hatte man schon genug Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den ansässigen Unternehmen sammeln können.

Man fühlte sich durch die Verhandlungen Rosenbaums mit der Landesregierung übergangen und zum Erfüllungsgehilfen der Fa. Kienzle degradiert. Ein Stadtrat stellte kritisch fest, „daß die Mitglieder des Gemeinderates nicht die Mitarbeiter bei Kienzle sind.“7

 

Kienzle-Leiterplatte 1983. Stadtarchiv Villingen-Schwenningen

„Wenn heute eine Firma im Computerbereich beginnen wolle, sei das Geld von vorneherein zum Fenster hinausgeworfen“. Kienzle-Leiterplatte 1983. Stadtarchiv Villingen-Schwenningen

Hier würde Wirtschaftsförderung über das Städtebausanierungsgesetz betrieben. An die versprochene Arbeitsplatzsicherung der Firma Kienzle wollte man wegen der vielen schlechten Erfahrungen nicht so recht glauben. „Wenn heute eine Firma im Computerbereich beginnen wolle, sei das Geld von vorneherein zum Fenster hinausgeworfen“, so ein Stadtrat.8 Außerdem komme der Einstieg von Kienzle in den Bereich der Elektrotechnik zu spät.9
Die Aktuellen Preisevorstellungen von Kienzle für die Grundstücke von 21 Mio DM bei einer Drittelbeteiligung der Stadt seien immer noch zu hoch. Solche Forderungen könnten nur durch eine „erhöhte Schuldenaufnahme“10 erfüllt werden. Dadurch würden andere zukünftige Sanierungsvorhaben der Stadt gefährdet.11

Man einigte sich schließlich mit 22 ja-Stimmen gegen 18 nein-Stimmen darauf, bei einem Gesamtförderrahmen von 18 Millionen DM in Verhandlungen mit dem Land Baden-Württemberg einzutreten.12

Die Stadtverwaltung in der Zwickmühle
Zwischen dem der ersten Gemeinderatssitzung am 15. 2. und der zweiten am 29. 2 gab es viele Kontakte zwischen Stuttgart und der Verwaltung in Villingen-Schwenningen13 .
Die Firma Kienzle, die ihre ursprünglichen Forderungen auf einen Förderrahmen von realistischen 18 Millionen DM reduziert sah, versuchte nun zusätzliche Vorteile für sich zu gewinnen. „Für unsere Entscheidungsfindung wird es von größter Bedeutung sein, ob die Stadt das Gesamtprojekt nunmehr mit dem Engagement unterstützt, das die langfristige Sicherung von über 800 Arbeitsplätzen erfordert. Eine Finanzierungslücke von ca. 6 Mio DM ist für uns nicht tragbar … Wir haben, indem wir von 38 Mio DM nachgewiesenen Werten [für die Kienzle-Grundstücke und –Gebäude] auf 21 Mio DM zurückgegangen sind, unseren guten Willen gezeigt,… dem hiesigen Wirtschaftsraum eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Jetzt liegt es an Ihnen, einen für beide Seiten tragbaren Kompromiß zu erarbeiten. Im Falle, daß wir auf ein neues Grundstück ausweichen müssen, erwarten wir, daß der Preis für ein von der Stadt zur Verfügung gestelltes Grundstück für uns wirtschaftlich verkraftbar bleibt14 und unseren Zugeständnissen entspricht.“15

In der Sitzung vom 29.2. schilderte Bürgermeister Kühn die Ergebnisse der vielen Gespräche: Das Land wisse, VS sei einer der schwächsten Wirtschaftsräume. Wenn das Gebiet Muslen in den Landessanierungsplan aufgenommen werde, müssten vier Städte ein weiteres Jahr warten. „Der Wirtschaftsminister sei nicht bereit gewesen, auch nur andeutungsweise eine neue Möglichkeit aufzuzeigen. Es habe außerordentlich gestört, daß Herr Rosenbaum gegenüber dem Land Blumen verteilt habe und die Stadt untergehen ließ. Es habe geheißen, daß davon ausgegangen werden solle … daß das Konzept geprüft ist und die Stadt sich anschließen solle. Bedrückend sei gewesen, daß man heraushören konnte, was künftig von der Stadt erwartet werde. Bedrückend sei auch die Aussage‚ ‚wer schnell gebe, gebe doppelt‘ und es werde erwartet, daß Land und Stadt den Gesamtbetrag im Oktober 1984 zur Verfügung stellen. Der Stadt sei zugemutet worden, sofort nach der Beschlussfassung am heutigen Tag an die Aufstellung eines Nachtragshaushaltsplanes zu gehen.“16
Der Gemeinderat war frustriert, weil Wirtschaftsförderung eigentlich Sache des Landes sei und kein Bedürfnis der Stadt Villingen-Schwenningen vorliege, die Firma Kienzle zu verlagern.
Der Oberbürgermeister fürchtete sich vor dem Druck der Öffentlichkeit, wenn die Stadt in diesem Stadium „den Bettel hinschmeiße“ und damit die Wigo-Arbeitsplätze aufgebe. Allerdings könne Villingen-Schwenningen dann nicht mehr guten Gewissens von sich behaupten, Wirtschaftsförderung zu treiben. Schließlich setzte sich die Ansicht durch bei einer Enthaltung und acht Gegenstimmen, dass die Stadt es sich nicht leisten könne, Arbeitsplätze zu gefährden und das grundsätzlich doch höchst attraktive Angebot des Landes auszuschlagen.17
Die Verwaltung wurde beauftragt „die Voraussetzungen für den Abschluss einer Rahmenvereinbarung mit der Firma Kienzle-Uhren betreffend die Verlagerung des Unternehmens zu schaffen und dem Gemeinderat vorzulegen.“18

Am 6.3. 1984 versicherte Innenminister Dr. Heinz Eyrich dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Erwin Teufel, dass das Kienzle-Gelände mit insgesamt 10,9 Millionen DM gefördert werde.
In der nichtöffentlichen Sitzung des Gemeinderats vom 15.3.1984 wurden der Verwaltung noch weitere Auflagen für die Rahmenvereinbarung mit Kienzle gemacht. Die endgültige Entscheidung über die Vereinbarung sollte dann der Gemeinderat treffen.
Um die Beschlüsse des Gemeinderates zu beschleunigen drohte der Kienzle-Geschäftsführer Rosenbaum der Stadt mit Schreiben vom 20.3.198419 „Sollte jedoch bis zum 21. D. M. keine positive Entscheidung der Stadt fallen, werden Sie Verständnis dafür haben, daß wir das Gesamtprojekt aufgeben müssen, um dann die von aus ausgearbeiteten Alternativpläne zu realisieren. KIENZLE würde aufgrund der Ihnen bekannten Sachzwänge – gegebenenfalls auch ohne öffentliche Mittel – eine zunächst teilweise Verlagerung aus der Stadt Villingen-Schwenningen kurzfristig vorbereiten müssen, da- wie mehrfach von der Stadt erklärt – kurzfristig kein freies Industriegebiet, z.B. im Rahmen einer städtischen Wirtschaftsförderung, kostengünstig nicht zur Verfügung gestellt werden kann.“
In der Sitzung vom 21.3.1984 , vier Tage vor der Landtagswahl, wurde in geheimer Abstimmung bei 32 Ja- und 16 Neinstimmen eine Vereinbarung mit der Firma Kienzle beschlossen. Die Vereinbarung sah ein Investitionsvolumen der Fa. Kienzle in Höhe von 48 Millionen DM vor. Die Stadt würde im Gegenzug die Grundstücke und Gebäude der Fa. Kienzle in der Innenstadt erwerben. Bestandteil der Vereinbarung war die Übernahme der Fa. WIGO von Kienzle, der Erhalt der Arbeitsplätze bei Wigo und Kienzle-Uhren. Als Gesamtentschädigung wurden 13 Millionen DM zusätzlich Mehrwertsteuer vereinbart. Die Vereinbarung wurde geschlossen unter der Voraussetzung, dass das Land diese Maßnahmen entsprechend des Städtebauförderungsgesetzes anerkennt.20

  1. Gemeinderatssitzung (nichtöffentlich) v. 15.2.1984, S. 36 []
  2. A.a.O. S. 37 []
  3. A.a.O. S. 40 []
  4. A.a.O. S. 41 []
  5. A.a.O. S. 42 []
  6. A.a.O. S. 43 []
  7. A.a.O. s. 45 []
  8. A.a.O. s. 49 []
  9. A.a.O. S. 51 []
  10. A.a.O. S. 57 []
  11. A.a.O. S. 58 []
  12. A.a.O. S. 61. Siehe auch Schwabo 16.2.1984. Kienzle-Uhren: Sicherung von 800 Arbeitsplätzen mit Investitionen zwischen 40 und 60 Millionen. Allerdings: Als Gegenleistung muß die Stadt das Schwenninger Kienzle-Areal kaufen. „Für den Verkauf dieses Geländes an die Stadt forderte Rosenbaum zunächst den stolzen Betrag von 30 Millionen Mark. Doch gerade diese 30-Millionen-Forderung, von Insidern als ‚überzogen‘ bezeichnet, war der kritische Punkt in den … Verkaufsverhandlungen. Zwar hat sich auch das Land grundsätzlich bereit erklärt, den beabsichtigten Kauf mit zwei Dritteln zu bezuschussen – doch … ‚nicht in unbegrenzter Höhe‘…. ‚Wenn Wigo den Bach runtergeht‘, malt Rosenbaum schwarz in schwarz, ‚dann geht Kienzle-Uhren vielleicht mit.‘ … Dem Vernehmen nach soll der neue Verkaufspreis jetzt bei 20 Millionen Mark liegen – zehn Millionen weniger als zunächst gefordert. Beim Zustandekommen dieses Geschäftes will Horst Rosenbaum mit einem ‚sehr starken Investitionsschub‘ von 40 bis 60 Millionen Mark in Schwenningen rund 800 Arbeitsplätze sichern. Dazu allerdings müsse der Gemeinderat den ersten Schritt tun und das Kienzle-uhren-gelände kaufen… Wie Rosenbaum wartet auch Karl-Heinz Lämmel, Betriebsratsvorsitzender der 110 Wigo-Mitarbeiter, besorgt auf die Entscheidung der Stadt.“ Der Gemeinderat konnte in einer nichtöffentlichen Sitzung nur entscheiden, vorbehaltlich der Landesentscheidung, „ob das Land diesen Millionen-Kauf zu zwei Dritteln bezuschußt.“ StAVS 4.9-29. Schwabo v. 17.2.1984. Schwabo 17.2.1984. Sichert Ministerpräsident Späth Sanierung Kienzle/ Wigo durch „Spitzenfinanzierung?“ Oberbürgermeister Gebauer heute zu Verhandlungen im Stuttgarter Innenministerium. „Zwar mochte Gebauer keine Zahlen nennen, doch daß es um zweistellige Millionenbeträge geht, steht fest. So bescheinigte beispielsweise ein Gutachten Kienzle-Uhren einen Wert von 29 Millionen und der Gemeinderat diskutierte … über eine Kienzle-Forderung von 21 Millionen Mark als Kaufsumme für die Gebäude und das 12500 Quadratmeter große Werksgelände. Für die heutigen Verhandlungen in Stuttgart, … habe der Gemeinderat … dem Oberbürgermeister Verhandlungsspielraum bis maximal 18 Millionen Mark eingeräumt.“ … „Zu einem ‚nicht unwesentlichen Teil‘ fließen diese Gelder in den Abbruch der alten Kienzle-Gebäude sowie in die Erschließung des bisherigen Kienzle-Areals am Schwenninger Bahnhof als Sanierungsgebiet. Ganz im Vordergrund aller Überlegungen steht dabei laut Gebauer die Sicherung der insgesamt 800 Arbeitsplätze bei Kienzle-Uhren und Wigo sowie der Erhalt dieser beiden renommierten Unternehmen.“ []
  13. StAVS 4.9-29, Schwabo v. 22.2.1984 Land ist „im Grundsatz“ zur Hilfe bereit. Lichtblick für Kienzle und Wigo/ Entscheidendes Spitzengespräch am 28. Februar. „Die endgültige Entscheidung bezüglich Kienzle/ Wigo wird voraussichtlich am 28. Februar bei einem Spitzengespräch zwischen Wirtschaftsminister Professor Dr. Rudolf Eberle, Innenminister Dr. Heinz Eyrich sowie Vertretern der Stadt und Kienzle-Uhren fallen“. Es sei noch nicht sicher, ob es zu einer Spitzenfinanzierung zur Schließung der Lücke kommt, „die sich zwischen den Mitteln des Städtebauförderungsgesetzes und Kienzle-Uhren-Chef Rosenbaums 21 Millionen-Forderung für den Neubau des Kienzle-Werks auftut.“ []
  14. Das bedeutet möglichst kostenlos. StAVS Gemeinderatsitzung v. 29.2. 1984 nichtöffentliche Sitzung. S. 78 []
  15. StAVS 1.13 Nr. 1639 schreiben der Fa. Kienzle v. 29.2.1984 S. 6 []
  16. Gemeinderatssitzung v. 29.2.1984 S. 78/79 []
  17. StAVS Gemeinderatssitzung v. 29.2.1984 S. 90/91 []
  18. A.a.O. []
  19. StAVS 1.13 Nr. 1639 Schreiben Kienzle an OB v. 20.3.1984. Rosenbaum setzt der Stadt die Pistole auf die Brust. []
  20. A.a.O. S. 120ff Gemeinderatssitzung v. 21.3.1984 []

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