Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Wie bekommt man qualifizierte Ingenieure?

geschrieben am: 02.05.2018 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Bildung/Ausbildung

Ein Dipl. Ing. alter Prägung (Jahrgang 43) berichtete der Verfasserin: Seine Mutter war Kriegerwitwe und musste ihre zwei Kinder alleine durchbringen. Der Sohn besuchte 7 ½ Jahre  eine einklassige Volksschule in einem badischen Dorf bei Emmendingen. Nach der Volksschule ging er zur Berufsfachschule nach Freiburg. Für diese Berufsfachschule bewarben sich damals 250 Volksschüler, von denen 50 aufgenommen wurden. Diese Schulart sei von einem Gewerbelehrer, Dr. Fleischmann, mit großem Engagement entwickelt worden.  Dann bekam er eine Lehrstelle als Feinmechaniker bei der Fa. Sick, Waldkirch. Die Berufsfachschule  wurde auf die Lehre angerechnet. In der Gewerbeschule in Emmendingen wurden damals angeblich noch alle Berufe zusammen in einer Klasse unterrichtet, weshalb das Unternehmen seine Lehrling nach Freiburg in die Berufsschule schickte, wo es Berufsklassen gab. Der Firmenchef der Firma Sick habe ihn außerordentlich gefördert. Bei der Fa. Sick lernte er einen Physiker kennen, der die Kombination unterschiedlicher Linsen für optische Zwecke mit dem Rechenschieber berechnete, und dafür keine zeitaufwendige Versuch-und-Irrtum –Phase brauchte. Das wollte er auch können. Nach sechs Jahren als Facharbeiter absolvierte er eine Ausbildung zum staatlich geprüften Techniker in Freiburg, anschließend besuchte er eine einjährige Berufsaufbauschule. Dann kam ein dreijähriges Feinwerktechnikstudium an der damaligen Fachhochschule Furtwangen.

Es gibt leider keine statistischen Erhebungen über den Prozentsatz an Hauptschülern unter den Ingenieuren, die in den 40er Jahren geboren wurden. Befragungen von pensionierten Ingenieuren in Villingen-Schwenningen durch die Verfasserin ergaben aber, dass noch in den 70er Jahren fast alle Befragten einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss hatten und anschließend eine Lehre im Metall-Elektro-Bereich absolvierten und später einen mittleren Bildungsabschluss nachholten.

Eine KMK- Untersuchung von 1960 stellte zur Vorbildung der Ingenieurstudenten der 50er Jahre fest, 55 Prozent hätten mittlere Reife, 72 Prozent einen Gesellen- und Facharbeiterbrief. Typische Verbindungswege seien mittlere Reife oder „Obersekundareife“ mit anschließender Lehre. Dies galt für 51 Prozent der Studenten. Eine andere Möglichkeit war: Volksschulabschluss, Lehre und gleichzeitiger oder späterer Besuch einer Berufs- oder Fachschule, evtl. ein Vorkurs an der Ingenieurschule. Dies traf für 28 Prozent der Studenten zu.1

Die Wirtschaft brauchte 1970 vor allem gut ausgebildete Ingenieure.2

Die Reform der Ingenieurausbildung musste zwingend der gestiegenen Bedeutung der Naturwissenschaften Rechnung tragen.3

Die gestiegenen theoretischen Ansprüche an den Ingenieur erforderten zwar als Eingangsvoraussetzung die Hochschulreife, die Ingenieurausbildung sollte aber weiterhin, für Hauptschüler offenbleiben. Schon deshalb, weil man sonst wohl keine ausreichende Anzahl an Ingenieuren bekommen hätte. Immerhin kamen noch 1966 42,7 Prozent der Ingenieurstudenten aus dem Bereich der Lehrberufe.4

„Die bisherige Ausbildung an Ingenieurschulen [ging] von der Fachschulreife oder einem anderen mittleren Abschluss als Zugangsvoraussetzung aus.“  Was nun offensichtlich nicht mehr genügte.  Moderne Ingenieurstudiengänge brauchten jetzt als Voraussetzung Wissen in Mathematik, Physik und Chemie, weshalb die Ingenieurschulen diese Fächer in ihre Lehrprogramme aufnahmen. Man könne deshalb die Studenten nicht mehr in einer angemessenen Zeit zum Ingenieur ausbilden.5

Ein Ingenieur von der Universität studierte 5 Jahre. Das Fachhochschulstudium sollte auf 6 Semester verlängert werden, ergänzt durch zwei Industriesemester, die Technikerausbildung an den Berufsschulen sollte von 3 auf 4 Semester verlängert werden.

Für den Übergang sollten an den Fachhochschulen Vorsemester für Realschüler eingeführt werden, in denen die fehlenden Grundlagen vermittelt wurden. Mit der Errichtung der Fachhochschulen, die die alten Ingenieurschulen ersetzten, lief die Ausbildung zum Ing. grad aus. Die Veränderungen waren auch notwendig, weil das Ausland in dem alten Ing. grad. einen Techniker sah. Die EWG-Richtlinien verlangten für Diplom Ingenieure die Hochschulreife und ein mindestens vierjähriges Studium.

  1. Helmuth Kainer, Die Geschichte der Staatlichen Ingenieurschule Furtwangen (Schwarzwald). Furtwangen 1993, S. 10 []
  2. Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.) Vorschlag zur Neuordnung des technischen Bildungswesens. Arbeitsergebnisse der Kommission für Ingenieurausbildung beim Kultusministerium Baden-Württemberg. Villingen 1969. In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung-Bildungspolitik. S. VII. Das Hochschulgesetz v.  Ba-Wü v. 7.3.1968 bezieht die Ingenieurschulen und höheren Fachschulen in den Hochschulgesamtbereich mit ein.

    In: Bildung in neuer Sicht. Schriftenreihe des Kultusministeriums Baden-Württemberg zur Bildungsforschung-Bildungsplanung-Bildungspolitik. []

  3. Wilhelm Hahn. Prof. Dr. Wilhelm Hahn: technische Bildung in der technisierten Welt-Aspekte der Ingenieurschulreform. Ebd. S. VIII []
  4. Ebd. S. 3 []
  5. Kultusministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Vorschlag zur Neuordnung des technischen Bildungswesens. Arbeitsergebnisse der Kommission für Ingenieurausbildung beim Kultusministerium Baden-Württemberg. Villingen 1969, S. 1 []

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