Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

1975 / 76 Krisenjahre bei Kienzle Apparate

geschrieben am: 15.03.2017 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Kienzle Apparate

Die Bäume wachsen nicht mehr in den Himmel

Im Geschäftsjahr 1971 gingen die Umsätze zurück. Die Kosten seien allgemein gestiegen, man habe sie aber nicht an die Kunden weitergeben können. Wegen der DM-Aufwertung mussten für den Export die Preise gesenkt werden, dadurch gingen auch die Erträge der Unternehmen zurück.

Finanzminister Robert Gleichauf bei Kienzle Apparate zu Besuch in Begleitung von Staatssekretär Erwin Teufel, 70er Jahre

Finanzminister Robert Gleichauf bei Kienzle Apparate zu Besuch in Begleitung von Staatssekretär Erwin Teufel, 70er Jahre

Es sei schwieriger geworden, die Sicherheit der Arbeitsplätze zu garantieren, so Jochen Kienzle, ein für ihn „wesentliches Ziel unserer Geschäftsführung“ auch für die Zukunft.

Lohnaufträge an andere Firmen wurden zurückgenommen, Überstunden abgebaut, Heimarbeitern wurde gekündigt, es kam zu innerbetrieblichen Versetzungen.1

„Die Bäume [wuchsen] nicht in den Himmel – auch in der Wirtschaft nicht [mehr].“2

Trotz der zurückgehenden Erträge wurden der Dr. Herbert Kienzle Unterstützungskasse 1971/72 wie im Vorjahr 900 000 DM überwiesen.

Die Innovationszyklen im EDV-Bereich wurden immer kürzer. Laufend mussten neue Nachfolgemodelle entwickelt werden, die Preise gerieten weiter  unter Druck. Das Kostenbewusstsein der Mitarbeiter müsse gesteigert werden, Rationalisierungsmaßnahmen wurden zur Kostensenkung durchgeführt. Von den Mitarbeitern wurde laufendes Weiterlernen erwartet, um sie auf die kommenden Veränderungen am Arbeitsplatz einzustellen.

Trotz schlechter Wirtschaftslage, steigender Material- und Personalkosten konnte Kienzle-Apparate seinen Umsatz 1973/74 um 13 Prozent steigern. Die europäische Gemeinschaft hatte glücklicherweise für Nutzfahrzeuge den Einbau von Tachographen gesetzlich vorgeschrieben.3  Äußerste Sparsamkeit sei notwendig. Die Zeiten regelmäßiger und großer Wachstumsraten seien endgültig vorbei. Trotz düsterer Aussichten überreichte Kienzle seinen Mitarbeitern 1974 eine Weihnachtsgratifikation von insgesamt 4,5 Millionen DM.4

Jeder Mitarbeiter bekam, wie seit Jahren üblich, eine Wurst und eine Flasche Wein.

Bis auf Widerruf wollte Kienzle keine Neueinstellungen mehr vornehmen.5  Schließlich seien die Personalkosten in Deutschland mit die höchsten.6

In der Betriebsversammlung vom März 1975 stellte Jochen Kienzle fest, der Einstellungsstopp werde auch weiterhin gelten. Entlassungen seien nicht geplant. „betroffen seien bestenfalls eine Handvoll Mitarbeiter, die umgeschult oder versetzt werden.“ Man hoffe mit einem neuen Kleincomputer „Efa 2000“ für größere Handwerksbetriebe die Krise zu überwinden.7

Im September 1975 hatte die  Kienzle Apparate GmbH „bei Magnetkonten-Computern den größten Marktanteil in der Bundesrepublik Deutschland“. Es wurden aber auch immer noch klassische mechanische Automaten verkauft. Man sei kein unnötiges Wachstumsrisiko eingegangen und habe den Strukturwandel in langfristig abgestimmten Übergangsphasen vollzogen.8

Die neuen elektronischen Geräte allerdings seien „bei gleicher oder komplexerer Funktionserfüllung in der Fertigungstiefe um etwa 80 Prozent reduziert, d.h. wenn an dem Gerät früher 10 Leute eine bestimmte Zeit gearbeitet haben, schaffen dies heute nur zwei Kollegen in der gleichen Zeit. Das bringt eine wahnsinnige Umstrukturierung für den Betrieb.“9

So berichtete Jürgen Martin auf der Branchenkonferenz für Uhren von seinem Unternehmen den anwesenden Gewerkschaftsvertretern und Kommunalpolitikern.

Am 11. September 1975 besuchte Forschungsminister Matthöfer das Unternehmen. Der Minister ließ sich die EDV-Systeme von Kienzle vorführen: EFAS 2000, 3000 und 6000/ 6100. „ In einer Zeit, in der die Arbeitsplätze nicht nur kurzfristig, sondern auch durch strukturelle Veränderungen in Gefahr seien, könne es sich der Staat nicht leisten, in dem wichtigsten Schlüsselbereich der Zukunft, der Datenverarbeitung und Rechenelektronik, Projekte zu entwickeln, die nicht langfristig gesichert [seien]… Die Bundesrepublik werde den technologischen Fortschritt nicht bekämpfen, sondern man sei bestrebt, den Strukturwandel so zu steuern, daß möglichst geringe Friktionen entstehen. Man müsse dort kämpfen, wo man stark sei. Die Deutsche MDT-Industrie, innerhalb der Kienzle eine bemerkenswerte Position einnehme, sehe sich großen Aufgaben gegenüber.“10

Der Matthöfer-Besuch diente dem Zweck, zu „neuen sachgerechten Förderungsmodalitäten zu kommen.“11

Jochen Kienzle konnte „für das laufende Jahr 1975 mit einem Förderbeitrag von  3.994.403,- DM rechnen.“ Vermittelt hatte den Matthöfer-Besuch der Betriebsratsvorsitzende Tonhausen.12

Im Geschäftsjahr 74/ 75  erreichten die Personalkosten des Unternehmens fast 50 Prozent.  Der Zinsaufwand für notwendige Investitionen verachtfachte sich, und die Erträge sanken.  Gewinne seien aber notwendig, um Investitionen für zukünftige Arbeitsplätze zu finanzieren, man habe deshalb die Fremdmittel des Unternehmens erhöhen müssen, was wieder zu höheren Zinsbelastungen geführt habe.13

In mechanischen  Teilbereichen gab es Kurzarbeit. Trotz Einstellungsstopp und sinkenden Mitarbeiterzahlen stiegen die Personalkosten weiter.

Zum Jahresende 1975 schrieb Jochen Kienzle, dass das zu Ende gehende Jahr 1975 weltweit ein schweres Jahr gewesen sei. Im Herbst musste im A-Bereich kurz gearbeitet werden. Die Kienzle-Produkte hätten immer noch eine sehr hohe Fertigungstiefe. Trotz Einstellungsstopp und sinkenden Mitarbeiterzahlen seien die Personalkosten weiter gestiegen.

Jochen Kienzle warnte vor hohen Lohn- und Gehaltsforderungen, diese würden den Konjunkturaufschwung bremsen und die Arbeitsplätze gefährden. Er hoffe auf Vernunft auch im Wahljahr 1976.14

In den Kienzle-Blättern versuchte die Geschäftsleitung den Mitarbeitern den Widerspruch von guter Auftragslage, hohen Umsätzen  und der Gefährdung eines Unternehmens durch hohe Kosten zu erklären. Die Unternehmen müssten vor allem die Kosten reduzieren, da man die Preise in der aktuellen Wettbewerbssituation nicht erhöhen könne. Die gute Presseberichterstattung über die Kienzle-Apparate-GmbH beweise nur, „daß es uns trotz der widrigen Umstände bisher gelungen ist, mit den vorhandenen Mitteln solide zu wirtschaften.“15

Sie bewies vor allem aber, dass  viele Unternehmen im Gegensatz zu Kienzle Apparate Mitte der 70er Jahre um ihre Existenz fürchteten, wie zum Beispiel die Uhrenfabriken der Region. Auch in einer angespannten Situation schüttete Kienzle  4,0 Mio DM an Weihnachtsgratifikationen aus.

In den 70er Jahren, in denen in Deutschland zahlreiche Firmen in Konkurs gingen, galt Kienzle-Apparate allgemein als ein innovatives Unternehmen, in dem der Strukturwandel gelang. Weshalb Politiker, Gewerkschafter das Unternehmen gerne besuchten. Am 20. Februar 1976 waren Eugen Loderer und Hans Mayer16

in Villingen und ließen sich von Dipl. Ing. Herbert Kienzle am Beispiel des Taxameters „den Sprung von der Klassischen Feinmechanik zur hochintegrierten Elektronik“ erklären. Im Gespräch mit den Betriebsräten und Vertrauensleuten diskutierte  Eugen Loderer die Qualifizierungsprobleme, die durch den Verlust der Fertigungstiefe für die Betroffenen auftrat. Der IG Metall-Vorsitzende Loderer verabschiedete sich, es zeuge „von sozialer Verantwortung, wenn von Anfang an die Folgen für die Arbeitnehmer in die Entscheidung einfließen. Glückauf für die weitere Arbeit.“17

Der Verwaltungsrat des Arbeitsamts Villingen-Schwenningen kam zu einem Halbtagsseminar zu Kienzle.18

Am 1. September 1977 besuchte Wirtschaftsminister Eberle die Fa. Kienzle-Apparate.19

Die neuen Technologien veränderten auch bei Kienzle-Apparate die Produktion. Montagevorgänge wurden weiter automatisiert und in den Geräten wurden verstärkt elektronische Bauelemente eingesetzt. Durch die ständige Ausweitung der Elektronik vollziehe sich ein grundlegender Wandel in der Montage. „Haben wir noch vor kaum zwei Jahren unsere wenigen elektronischen Bauteile Stück für Stück einzeln in die Leiterplatten eingelötet, so wurde in einer relativ kurzen Zeit des Einsatzes unserer automatischen Lötanlage diese schon zu einem kleinen Herzstück unserer Montage.“20

„Es gibt kaum ein Erzeugnis, welches den technischen Wandel in so kurzer Zeit eindrucksvoller darzustellen vermag, wie unser neu entwickelter elektronischer Taxameter als Nachfolger eines fast schon zwei Jahrzehnte produzierten und geradezu klassischen Gerätes feinmechanischer Wertarbeit. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist der geringere Bedarf an Mitarbeitern.“21

Was ein Unternehmen so alles zahlen musste, das konnten die Mitarbeiter und die Öffentlichkeit immer wieder in den Kienzle-Blättern nachlesen. Im Geschäftsjahr 1975/76 wurden 108.500.000.- DM an Lohn- und Gehaltszahlungen gezahlt. Urlaubsvergütung, Feiertagsvergütung, Lohn- und Gehaltsfortzahlung und Weihnachtsgratifikation machten 28.000.000.- DM aus. Gesetzliche und tarifvertragliche Leistungen für Arbeitslosen-, Kranken-, und Unfallversicherung etc. betrugen 17.000.000.- DM. An freiwilligen Sozialleistungen zahlte der Betrieb 12.315.000.- DM (Aus- und Fortbildung, Altersversorgung und andere Unterstützungsleistungen, Betriebskrankenkasse, Erfindervergütung, Verbesserungsvorschläge, Personenbeförderung, Werksfürsorge, Werksverpflegung, Wohnungswesen). Der Personalkostenanteil hatte leider weiter zugenommen auf  51,88 Prozent. Die Bankzinsen waren niedriger geworden, weshalb die Ausgaben für Investitionen zurückgingen. Die Gewinne hatten etwas zugenommen von 0,68 auf 0,98 Prozent des Umsatzes.

Das mechanische Programm betrage noch 5 Prozent nach 22 Prozent im Vorjahr. Das Betriebsergebnis wurde dadurch aber nicht viel besser. Die Beschäftigten seien um 5 Prozent zurückgegangen.22

1977 besserte sich die wirtschaftliche Lage. Die Bundeszuschüsse für EDV taten dem Unternehmen gut. Die Personalkosten waren leicht gesunken von 51,88 % auf 48,51 % und auch die Erträge nahmen von 0,98 auf 1,63 Prozent zu, was von der Unternehmensleitung aber nicht als ausreichend angesehen wurde, „um den Anteil der unternehmenseigenen Mittel zu verstärken.“23  Das Problem blieben die Personalkosten, ein Thema, dem die Kienzle-Blätter viel Informationsaufwand widmeten. Zu einer Mark Lohn zahlten Kienzle 63 Pfennig für sozialen Aufwand an gesetzlich vorgeschriebenen und freiwilligen sozialen Leistungen.24

  1. Kienzle-Blätter 1/ 1972, S. 4 Der Betriebsratsvorsitzende beklagte, dass 65 Heimarbeiterinnen entlassen werden mussten, meist Ehefrauen von Betriebsangehörigen. Die Beschäftigungslage habe auch innerbetrieblich zu Versetzungen geführt []
  2. Kienzle-Blätter 3/ 1971, S. 3 Betriebsversammlungen in Villingen. Der gesamt Umsatz des Unternehmens sei zwar um 2 % gestiegen, die Personalkosten hätten aber im gleichen Zeitraum um 11 % zugenommen. Der Kienzle-Computer 6000 konnte zwar gut verkauft werden, leider mussten die Preise bei diesem Gerät gesenkt werden wegen des hohen Konkurrenzdrucks. Wegen der DM-Aufwertung ging der Export von 39 auf 34, 5 zurück. (Belegschaftsentwicklung 3/72 Konjunktur, Verlagerung von Arbeitern zu Angestellten). []
  3.   Kienzle-Blätter 1/1974 S. 4 und 5 []
  4. Kienzle-Blätter 3 u.4/ 1974, S. 6 []
  5. Kienzle-Blätter 1/ 1975 Die Geschäftsleitung berichtet S. 4 []
  6. A.a.O. []
  7. StAVS Chronik 7535, Südkurier v. 26.3.1975. Schwierige Zeiten für Kienzle Apparate. Siehe auch Schwabo v. 15.4.1975 Kienzle Apparate stellt Neuheiten vor. „Die Elektronik löst endgültig die klassisch-mechanischen Verfahren ab.“… „Seit Beginn der fünfziger Jahre ist Kienzle im Büromaschinen-Geschäft tätig und erfolgreich. In rund 25 Jahren wurden über 200 000 Buchungsautomaten und Fakturiermaschinen ausgeliefert. Viele dieser robusten elektromechanischen Geräte sind heute noch im Einsatz. Aber im Rechnungswesen des Klein- und Mittelbetriebs vollzieht sich ein Strukturwandel, auch hier hält die Automation nun Einzug. []
  8. StAVS Chronik 7535, Südkurier v. 13.9.1975 Kienzle-Apparate erlebt Auftragsboom. []
  9. Jürgen Martin, Kienzle Apparate. In: Vorstand IGM (Hrsg), Branchenkonferenz Uhren der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland. „Uhrenindustrie zwischen Technischem Fortschritt und Wettbewerb.“ 21. Oktober 1975 Sindelfingen. Frankfurt 1975, S. 72 []
  10.  Kienzle-Blätter 3/1975, S. 7 []
  11. A.a.O. S. 8 Seit 1968 erhielt das Unternehmen Förderungsmittel, überwiegend als Darlehen. Allerdings musste das Unternehmen dafür auch große Vorleistungen bringen. Einem Förderungszuschuss von einer Million standen 1968 7,27 Millionen DM Entwicklungskosten gegenüber. []
  12. A.a.O. Diese Zahl erscheine zwar auf den ersten Blick hoch, sie entspreche aber der nicht ganz durchschnittlichen monatlichen Lohnzahlung des Unternehmens. Diese Summe werde deshalb schnell relativiert. []
  13. A.a.O. []
  14. A.a.O. S. 3 A.a.O. 4/ 1975, Jochen Kienzle: Jahresende beutet Rückblick, Jahresanfang Ausblick. S. 2/3 []
  15. A.a.O. S. 4 []
  16. Eugen Loderer  IG Metall Vorsitzender von 1972 bis 1983, Hans Mayer war IGM-Vorsitzender in Württemberg []
  17. A.a.O. S. 27 []
  18. Kienzle-Blätter 4/ 1975 S. 31/ 32 []
  19. Kienzle-Blätter 2/1977, S. 30 []
  20. Kienzle-Blätter 2/1976, S. 30 []
  21. A.a.O. S. 31 []
  22.  A.a.O. Beilagen zu den Kienzle-Blättern Heft 3/ 1976. []
  23. Beilage zu den Kienzle-Blättern 3/77. []
  24. Kienzle-Blätter 4/77 Personalaufwand im Geschäftsjahr 1976/77 S. 10 und 11. []

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