Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Kienzle Apparate – Bedeutung für die Region

geschrieben am: 29.01.2017 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Kienzle Apparate

1970 hatte Kienzle nochmals kräftig erweitert. Das Apparate-Werk an der Sommertshauser Halde und ein neues Schulungs- und Verwaltungsgebäude wurden bezogen.1

Kienzle Apparate, Werk Sommertshauser Halde

Kienzle Apparate, Werk Sommertshauser Halde/ StAVS

Nahezu ein Drittel aller Beschäftigten im produzierenden Gewerbe arbeitete in Villingen bei  Kienzle – Apparate. Allein das Werk Villingen zählte am 30. 11. 1970  3665 Mitarbeiter. Kienzle-Apparate war sich seiner hohen Bedeutung für den Wirtschaftsraum bewusst. Über Lohn- und  Gehaltszahlungen flossen dem Handel  der Region 1975 rund 56 Millionen DM zu, weitere 32 Millionen dem Schwarzwald-Baar-Kreis. 739 Unternehmen der Stadt  hätten Aufträge von 35 Mio bekommen, im Kreis erhielten weitere 125 Firmen Aufträge im Wert von 10 Mio. Allein die Stadtwerke bekamen für Strom, Gas und Wasser 1 650 000 DM. 4 480 000 DM habe die Betriebskrankenkasse ausgegeben.2

Im Wirtschaftsjahr 1977/78 gab Kienzle  Aufträge an 455 Firmen in der Stadt Villingen-Schwenningen aus und im Landkreis an 195 Unternehmen. Insgesamt machte dies ein Volumen von 50 Mio. DM aus. Für Park-Mietplätze wurden jährlich 18 000 DM ausgegeben, für den Werkverkehr an Bus- Unternehmen 257 000.- DM. 156.200.000.- DM wurden an Löhnen und Gehältern gezahlt. „Entsprechend dem Verhältnis der auf die einzelnen Betriebsstätten entfallenden Löhne und Gehälter erhält die Stadt Villingen-Schwenningen ca. 85 % der von unserem Unternehmen zu zahlenden Gewerbesteuer. Auch von der zweiten, direkt an die Gemeinden zu entrichtenden Steuer, nämlich der Grundsteuer, entfällt der Löwenanteil auf die Stadt Villingen-Schwenningen. Die übrigen Steuern, die an das Finanzamt Villingen-Schwenningen abgeführt werden, sind Bundes- und Landessteuern. Sie fließen im Wege des Finanzausgleichs teilweise den Gemeinden wieder zu. Über die Auftragsvergabe der Kommunen geht auch von den Steuern eine die Wirtschaft unseres Raumes stärkende Wirkung aus.“3

Zur Städtefusion 1972 schenkte Kienzle der Stadt Villingen-Schwenningen einen zweiten Computer für die nun größere gemeinsame Finanzverwaltung, nachdem die Stadtverwaltung Villingen bereits ihre Finanzverwaltung auf das Kienzle-System  6000 umgestellt hatte.  „Wir haben nicht vergessen, daß die Wiege unseres Unternehmens in Schwenningen stand, wenn es auch seit mehr als 40 Jahren in Villingen eine eigenständige Entwicklung zu bedeutender Größe nahm, die – und das dürfen wir mit Stolz feststellen – zur allgemeinen Entwicklung Villingens beigetragen hat.“4

Auch in den regionalen Gemeinderäten saßen die Mitarbeiter der Firma Kienzle-Apparate.  Heinz H. erinnerte sich, er sei am Tag der Gemeinderatswahl 1975 auf der Hannover-Messe für Kienzle gewesen. „Da  wurde ich gefragt, wie ist es ausgegangen.  Dann hab ich gesagt. Ich bin gewählt worden und dann kann ich mich erinnern, dass der  Jochen Kienzle mich angesprochen und mir gratuliert hat. ‚Ich finde es hervorragend, dass sie in den Gemeinderat gekommen sind.‘ Die Geschäftsführer haben das sehr positiv aufgenommen.“ 5

Insgesamt waren bei der Kommunalwahl 1975 acht Mitarbeiter des Unternehmens in die Kommunalparlamente der Region gewählt worden.

Kienzle Apparaten sah sich in den 70er Jahren als hochmodernes mitarbeiterorientiertes Familienunternehmen.6

„Über Fahrschreiber, Betriebsüberwachungsgeräte, Arbeitsschauuhren, und Rechenwerke für Tankstellen führte der Weg zu [den] Büromaschinen und mit diesen in die Elektronik.“7

Kienzle war stolz auf seine Stammbelegschaft von 1000 Mitarbeitern mit mehr als 10 Jahren Betriebszugehörigkeit. Das Unternehmen habe sich dem technischen Fortschritt ausgerechnet auf einem Wege angeschlossen, auf dem es besonders rasant vorwärts gehe, nämlich mit  Organisationsgeräten, Datenerfassung und Datenverarbeitung. Die Mitarbeiter seien heute keine Befehlsempfänger mehr „wie anno Tobak“, sie würden mitdenken und mitverantworten, und ständig hinzulernen.8

Durch das neue Betriebsverfassungsgesetz von 1972 wurden die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Betriebsräte erheblich erweitert. Die Wahl der Betriebsräte bei Kienzle hatte deshalb ein erstaunliches Echo. 1972 wurde Norbert Tonhausen in den Betriebsrat und als Nachfolger von Hans Faßnacht auch zum Vorsitzenden dieses Gremiums gewählt. Norbert Tonhausen, ein ausgesprochenes Rednertalent,  habe selbst die Geschäftsleitung überstrahlt. Die Geschäftsführer hätten vor ihm Respekt gehabt, erzählen Ehemalige noch heute.

Nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976 wurden auch bei Kienzle-Apparate Arbeitnehmer-Vertreter in den  Aufsichtsrat gewählt.

Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bei Kienzle Apparate 1978 (v.l.n.r.) oben Gunter Meder, Paula Fuchs, Norbert Tonhausen. Unten: Klaus Zwickel IGM, Werner Müller DAG.

Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bei Kienzle Apparate 1978 (v.l.n.r.) oben Gunter Meder, Paula Fuchs, Norbert Tonhausen. Unten: Klaus Zwickel IGM, Werner Müller DAG. / StAVS

Die Gruppe der Lohnempfänger wählten die Kollegen Gunther Meder und Paula Fuchs, die Gruppe der Angestellten Norbert Tonhausen, die leitenden Angestellten Herbert Muhle. Für die Gewerkschaften saßen Werner Müller von der DAG  und Klaus Zwickel von der IG Metall im Kienzle-Aufsichtsrat.9

  1. Vgl. StAVS Chronik 7535, Schwabo v. 20.8.1970,  Bedeutsamste Erweiterung seit der Gründung []
  2. Kienzle Blätter 4/ 1975, Unser Unternehmen als Wirtschaftsfaktor unseres Raumes, S. 5 []
  3. A.a.O. 4/78 S. 43/44 Die Firma Kienzle Apparate GmbH – ihre Bedeutung für die Wirtschaft unseres Raumes. []
  4. A.a.O. 1/1972  S. 11 []
  5. Heinz H. Interview vom 14.8.2015 []
  6. Kienzle-Blätter 1978/ 4, S. 9 Eine Einführung in das Unternehmen betonte „In dieser Region sind die Könner der Feinmechanik zu Hause, auf deren solidem Boden die Elektronik besonders gut gedeiht. “  Das Unternehmen sei im „Alleinbesitz“ der Familie Kienzle []
  7. A.a.O. []
  8. A.a.O. S. 12 []
  9. Kienzle-Blätter 3 / 1976 S.9 und Kienzle-Blätter 2/78, S. 9 Unsere Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat S. 9, Mitbestimmungsgesetz von 1976: Das Mitbestimmungsgesetz vom 4. 5. 1976 gilt für Unternehmen mit i. d. R. mehr als 2 000 Beschäftigten, wenn sie als juristische Person in der Form einer AG, Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), GmbH, bergrechtlichen Gewerkschaft oder Genossenschaft betrieben werden. Tendenzbetriebe im Sinne von § 118 BetrVG sowie Unternehmen, die dem Montanmitbestimmungsgesetz 1951 unterliegen, sind von dieser Art der Unternehmensmitbestimmung ausgenommen. Nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 bleiben die Kompetenzen der Anteilseigner bei den Grundfragen des Unternehmens unberührt (z. B. bei Änderung des Unternehmensgegenstandes, Auflösung oder Umwandlung des Unternehmens, Kapitalerhöhung, Fusion). Es bestimmt aber, dass der Aufsichtsrat gleichmäßig mit Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer besetzt wird. Die Arbeitnehmersitze müssen auf Arbeiter, Angestellte und leitende Angestellte entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbelegschaft verteilt werden; ihre Wahl erfolgt, je nach Belegschaftsstärke, unmittelbar durch Urwahl oder mittelbar durch Wahlmänner. (Wikipedia) Vgl. Kienzle-Blätter 1/ 78, Aufsichtsratswahlen S. 19-22 []

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