Sozialgeschichte der Uhrenindustrie

Arbeitskampf 1963: Der Streik

geschrieben am: 09.12.2016 von: Annemarie Conradt-Mach in Kategorie(n): Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

Der Streik in Schwenningen begann am Montag, dem 29. April 1963 um 0.00 Uhr.

Die Streikenden Gewerkschaftsmitglieder wurden aufgerufen sich in den Streiklokalen registrieren zu lassen. Diese waren am ersten Streiktag von 7 bis 9 Uhr, von 11 Bis 12 Uhr und von 14 Bis 18 Uhr geöffnet. In den Streiklokalen wurde auch das Streikgeld ausgezahlt.

Streiklokal "zum Bären" , Meldestelle für die Fa. Schlenker-Grusen

Streiklokal „zum Bären“ , Meldestelle für die Fa. Schlenker-Grusen

Registrierung der Streikenden im Streiklokal/ Bild: Erich Mayer

Registrierung der Streikenden im Streiklokal/ Bild: Erich Mayer

Die Streikposten standen schon vor Beginn der Arbeitszeit vor den Fabriktoren.

Streikposten wurden von der Streikleitung ausgewählt, andere Personen durften sich als Streikposten nicht betätigen. Aufgabe der Streikposten war es „Streikbrecher durch gütliches Zureden vom Betreten des Betriebes abzuhalten. Sollte dieses bei Unbelehrbaren nicht zum Erfolg führen, muss der Streikposten alle Handlungen unterlassen, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen. Er darf sich durch evtl. Provokationen, gleichgültig, von welcher Seite sie ausgehen, nicht zu ungesetzlichem handeln verleiten lassen. Ebenso darf er sich nicht an Provokationen gegen das Unternehmen oder gegen Streikbrecher beteiligen. Anordnungen der Polizeibeamten sind der Streikleitung umgehend zu melden.“1

Streik – Kundgebung

Um 10 Uhr gab es die erste Streikkundgebung auf dem Marktplatz. Drei- bis viertausend Menschen kamen am ersten Streiktag um 10 Uhr zur Streikkundgebung auf den Schwenninger Marktplatz.

Zur der durch den Streik weiter verschlechterten wirtschaftlichen Situation der Uhrenindustrie bemerkte der IG Metall-Bevollmächtigte Erich Mayer,  „ der Uhrenindustrie, die während des ersten Gesprächs [mit der IG Metall] auf die ernste Lage in diesem Industriezweig hingewiesen habe, seien von der Bezirksleitung Verhandlungen angeboten worden, sofern die Uhrenindustrie bereit sei, aus dem Gesamtverband der metallindustriellen Arbeitgeber auszuscheren. Darauf sei keine Antwort… erteilt worden.“  Erich Mayer fügte hinzu: „Wir sind nicht bereit das Risiko für offenkundige Fehlinvestitionen, für falsche Dispositionen [der Unternehmen] zu tragen.“

Streik-Kundgebung mit Erich Mayer

Streik-Kundgebung mit Erich Mayer

Mayer rechnet fest mit einer Aussperrung: „Wir werden ruhig und diszipliniert diesen Lohnkampf bis zum entscheidenden Sieg führen.“ Nichtorganisierte und Gastarbeiter hätten sich bereits  dem Lohnkampf angeschlossen.2

Die Arbeitgeber warnten in den Betrieben die Beschäftigten vor einer möglichen Aussperrung.

„Ein Streik wird unserem Unternehmen, das Ihnen Ihren Arbeitsplatz gesichert hat und Ihnen Ihr Einkommen weiterhin gewährleisten will, schweren Schaden zufügen.

Wir fordern Sie deshalb auf, dem Streikaufruf nicht zu folgen. Alle Arbeitswilligen können ihrer gewohnten Arbeit nachgehen.

… Eine Abwehraussperrung beendet das Arbeitsverhältnis wie eine fristlose Entlassung. Nach Beendigung der Tarifauseinandersetzung ist eine Neueinstellung erforderlich. …. [wir] weisen darauf hin, dass das Bilden von Ketten vor dem Tor durch Streikende, mit dem Zweck Arbeitswillige fernzuhalten, als Landfriedensbruch (§125 StGB) gilt.“3

Streikposten vor der Uhrenfabrik Kienzle 1963 / Aufnahme Erich Honer

Streikposten vor der Uhrenfabrik Kienzle 1963 / Aufnahme Erich Honer

Lautsprecherwagen vor der Uhrenfabrik Kienzle/ Bild: Erich Mayer

Lautsprecherwagen vor der Uhrenfabrik Kienzle/ Bild: Erich Mayer

„Wenn auch viele Arbeitswillige, vor allem Frauen und Mädchen, es nicht wagten, die losen Ketten der Streikposten zu passieren – besonders deutlich wurde das  bei den Firmen Kienzle-Uhrenfabriken und Irion & Vosseler-, muß man den Streikposten bescheinigen, daß sie sich sehr diszipliniert verhielten.“4   , so bewertete der Schwarzwälder Bote die Situation. „In der Maschinenfabrik Bernhard Steinel forderte ein Lautsprecherwagen die Betriebsangehörigen auf, die Arbeit aufzunehmen. Ihm antwortete wenig später ein Lautsprecherwagen der IG Metall.“ Mit passenden Gewerkschaftsinformationen.  Landespolizei trat verstärkt auf, es kam aber zu keinen Ausschreitungen.

 

Arbeitswillige

Am ersten Streiktag, dem 29. April, legte der Arbeitgeberverband Zahlen über den Anteil der Arbeitswilligen in Schwenningen vor, der bei den einzelnen betroffenen Betrieben zwischen 6 und 85 Prozent ausmache. So gab es in der Uhrenfabrik Kienzle nur 15 Prozent Arbeitswillige, in der Maschinenfabrik Gustav Strohm hingegen 85 Prozent. Bei Steinel waren 64, bei Pfäffle 81, bei Fernwellen 73 und bei Otto Schlund 60 Prozent der Beschäftigten zur Arbeit erschienen. Bei Jauch und Schmid gab es 9,5,  bei Irion u. Vosseler 8, bei Mauthe 26, bei Schlenker Grusen 36, bei Müller- Schlenker 20 Prozent Arbeitswillige.5

Dass die Anzahl der Ja-Stimmen bei der Urabstimmung nicht unbedingt mit der Anzahl an Streikwilligen gleichzusetzen war, davon berichtete ein Zeitzeuge:

„bei Johann Jäckle war es so, daß wir mit 75 oder 76 % für Streik gestimmt haben und dann am Montag früh sind etwa 48 % zum Streik angetreten. Die anderen sind dann hinten zum Tor rein, egal wo es ging, sind sie reingegangen. Das war eine Lehre für uns Betriebsräte. Ich hab dann alle aufgenommen, die gestreikt haben … nach dem Streik war die Belegschaft geteilt. Mit den Streikbrechern hat man monate- ja jahrelang nicht gesprochen. War vielleicht ein Fehler, aber so war es halt.6

Dass aber auch Arbeitgeber an einer Versachlichung des Klimas interessiert sein konnten, belegt folgende Erinnerung:

„Am Dienstag hing plötzlich oben am Fenster ein Plakat ‚Hier wird nicht gestreikt in diesem Betrieb‘. Wir haben angefangen zu pfeifen. Der Betriebsleiter wurde darauf aufmerksam: ‚Was ist denn hier los. ‘ ‚Kucken Sie mal nauf.‘ Der ist in den Betrieb geschossen und hat gebrüllt. ‘Wer war das? Sofort machen Sie das weg, sonst können Sie Ihre Papiere nehmen. Die Leute streiken legal auch für Sie. Sie haben nicht das Recht, etwas im Betrieb ohne Zustimmung aufzuhängen‘ hat uns  gefallen.“7

Ein Arbeitskampf war Ausnahmezustand. Bei vielen Betroffenen lagen die Nerven blos.  Einige Arbeitgeber hätten versucht, Angst und Schrecken zu verbreiten. Frauen seien unter Schock gestanden und hätten im Betrieb geweint. Manche Arbeitnehmer befürchteten, dass sie ihre Werkswohnung verlieren könnten, weil Arbeitsvertrag und Mietvertrag gekoppelt waren.8

Die Anzahl der Arbeitswilligen sei während des Arbeitskampfs nach Darstellung des Arbeitgeberverbandes  im Wesentlichen stabil geblieben. „Übereinstimmend berichteten die Firmen, daß eine wesentlich größere Zahl Arbeitswilliger den Betrieb betreten hätte, wenn [von den Arbeitgebern] die Zusage gegeben worden wäre, Arbeitswillige keinesfalls auszusperren. Unter Hinweis auf die Gefahr der Aussperrung [habe] es die IG Metall verstanden, zahlreiche Arbeitswillige vom Betreten des Betriebs abzuhalten. Einzelne Firmen [hätten] sich in Ansehung ihrer möglichen Verpflichtung zur Aussperrung nicht mit vollem Einsatz um Arbeitswillige bemüht.“

Der Arbeitgeberverband war überzeugt, die IG Metall hätte die Androhung einer Aussperrung für sich nutzen und mit diesem Argument mögliche Arbeitswillige von einer Streikbeteiligung überzeugen können.9

Um die Streikfront aufzuweichen und die Streikfolgen möglichst niedrig zu halten, war es für die Arbeitgeber wichtig, möglichst viele  ihrer Beschäftigten dazu zu bewegen, am Streik nicht teilzunehmen.

Da war die geplante Aussperrung der Metallunternehmer aber für viele Beschäftigte eher ein  Argument, in die Gewerkschaft einzutreten, weil man nur so die ausfallenden Lohnzahlungen durch Streikgeld ausgleichen konnte. Ein Effekt, der nicht unbedingt im Sinne der Arbeitgeber sein konnte, weshalb „den Arbeitswilligen zum überwiegenden Teil entsprechende Unterstützung bei einer möglichen Aussperrung“ durch die Unternehmen zugesichert wurde.10

Ihre Arbeitskampfschäden konnten die Unternehmen sich später vom Verband aus dem Unterstützungsfonds teilweise erstatten lassen.11

Der Schwarzwälder Bote war der Meinung, die Arbeitsbereitschaft sei in der Uhrenindustrie niedriger als in anderen Metallbetrieben gewesen, „was vielleicht einige Äußerungen über das Betriebsklima der letzten Monate in hiesigen Betrieben der Uhrenindustrie rechtfertigt.“

Der Gewerkschaftssekretär Erich Mayer zeigte sich zufrieden und war überzeugt,  dass die Produktion in den bestreikten Betrieben trotz der Arbeitswilligen zusammengebrochen sei.12

Es gelang sogar über eine Einzelvereinbarungen die gegnerische Abwehrfront aufzuweichen. Das Metallunternehmen Mahle in Rottweil gewährt seinen Mitarbeitern nach Einzelverhandlungen mit der IG Metall-Verwaltungsstelle Schwenningen ab 1. 4.1963 eine sechsprozentige Lohnerhöhung unter Beibehaltung der außertariflichen Leistungen. Deshalb wurde bei Mahle trotz Streik gearbeitet13  und das Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband ausgeschlossen.14

In einem Gespräch bewertete der Stuttgarter IG-Metall-Vorsitzende Willi Bleicher den Streikbeginn. „Arbeiter und Unternehmer hätten wohl manchmal Probleme mit der Verbandssolidarität. Beschäftigte in den Kleinbetrieben seien davon ausgegangen, die enge Beziehung zum Chef würde für sie eine Aussperrung verhindern.“ Bleicher wies darauf hin nicht Organisierte seien in der nun bevorstehend Aussperrung auf die Staatliche Fürsorge angewiesen. Die Arbeitspause habe aber auch gute Seiten, viele würden jetzt „ihr Häusle richten“.15

Die SPD und der schweizerische Gewerkschaftsbund erklärten sich solidarisch mit den streikenden Metallarbeitern.16

Über die Auswirkungen des Streiks auf das Alltagsleben berichtete der Schwarzwälder Bote, die Schwenninger hätten den „Bedarf an nicht lebensnotwendigen Lebensmitteln eingeschränkt“,  „der Besuch in Friseurläden“ sei „merkbar“ zurückgegangen „und der sonntägliche Ausflugsverkehr mit der Bahn, der in den letzten Wochen sehr rege war“, sei schlagartig erlahmt. Vor Fabriktoren habe es Anschläge gegeben. „Wir arbeiten weiter“. (Johann Jäckle)17

Am zweiten Streiktag, dem 30. April beschlossen die Gremien der Verbände der Metallindustrie in Württemberg-Hohenzollern in Hechingen die Aussperrung.

Autokorso "kommt zur Mai-Kundgebung am 1. Mai 1963 um 10 Uhr auf dem Marktplatz!"

Autokorso „kommt zur Mai-Kundgebung am 1. Mai 1963 um 10 Uhr auf dem Marktplatz!“ / Bild: Erich Mayer

Mai-Kundgebung

Kundgebung zum 1. Mai 1963, Redner Otto Gottschlich, Motto: In Freiheit gestalten!

Kundgebung zum 1. Mai 1963, Redner Otto Gotschlich, Motto: In Freiheit gestalten!

Die Mai-Kundgebung des DGB auf dem Schwenninger Marktplatz stand ganz im Zeichen des Arbeitskampfs.  Unter dem Motto „ Grundrechte wahren – Freiheit gestalten“ sprach der Bevollmächtigte der IG Metall Ulm, Otto Gotschlich, zu den  2500 Kundgebungsteilnehmern, unter ihnen auch Oberbürgermeister Dr. Gebauer. Von der in den letzten Jahren so oft „beschworenen Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ sei gerade in der letzten Zeit nicht viel zu hören. Gotschlich forderte eine Korrektur der Vermögensverteilung. „Sie sei …schon deshalb erforderlich, damit der wirtschaftlichen Machtkonzentration Einhalt geboten werde. Der Arbeiter dürfe nicht nur politisch gleichberechtigt sein, er müsse auch zum gleichberechtigten Wirtschaftsträger werden. Seine Kraft und nicht das Geld der Arbeitgeber hätte den Wiederaufbau geschafft.“ Nach Gottschlichs Ansicht war der Aussperrungsbeschluss vom 30. April Machtmissbrauch. „Er sei … ein Verbrechen gegenüber den Abhängigen.“  Zum Schluss der Kundgebung appellierte  der Bevollmächtigte der IG Metall im Verwaltungsbezirk Schwenningen Erich Mayer an die Solidarität aller Arbeitnehmer und kündigte eine Verstärkung der Streikposten vor den Betrieben an.18

  1. Anweisungen für Streikposten. In:  Rolf Nickstadt, Zusammenstellung von Dokumenten des Arbeitskampfs 1964. Im Besitz der Autorin. []
  2. StAVS Chronik 799, NQ v. 30. 4. 1963 Harte Kritik an den Arbeitgebern. IG Metall zu jeder Stunde zu den Verhandlungen bereit/ Die erste Streik-Kundgebung []
  3. IG Metall Ortsverwaltung Schwenningen a.N., Geschäftsbericht 1963/64/65. S.10 []
  4. StAVS Chronik 799, Schwabo v. 30.4.1963 []
  5. StAVS Chronik 799, NQ v. 30.4.1963 []
  6. A. Spiegel, Betriebsrat bei der Fa. Joh. Jäckle. In: Ingeborg Kottmann, der große Streik in Schwenningen 1963. Blätter zur Geschichte der Stadt Villingen-Schwenningen1/96, S. 7 []
  7. K.H. Lämmle, Betriebsrat bei Wigo. A.a.O. []
  8. IGM Ortsverwaltung Schwenningen am Neckar. Geschäftsbericht 1963/64/65. S.11 []
  9. StAVS 4.9-691 Schreiben des Verbands der Schwarzwälder Uhrenindustrie e.V. Schwenningen a.N. an den Verband der Metallindustrie von Südwürttemberg-Hohenzollern. In Reutlingen. S.2 []
  10. StAVS Chronik 799, NQ v. 30.4.1963 Der erste Tag des Metallarbeiterstreiks ist vorüber. Fronten verschärfen sich weiterhin. IG Metall mit der Streikbereitschaft, Arbeitgeber mit der Arbeitsbereitschaft zufrieden. „Heute nachmittag fällt in Hechingen die Entscheidung über die von den Arbeitgebern angedrohte Aussperrung. In Stuttgart beschlossen die Metallindustriellen schon gestern die Totalaussperrung im Tarifbezirk Nordwüttemberg-Nordbaden.“ []
  11. StAVS 4.9-691 Umlage von Unterst6ützungsmitteln für Württemberg-Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern nach dem Stand der haftsummen per 31. Dezember 1962. Anlage zum Rundschreiben. 144/ 63 v. 8.5.1963 und StAVS 4.9-690, Auszahlungen aus dem Unterstützungsfonds des Verbands der Schwarzwälder Uhrenindustrie e.V. Es wurden 70 Prozent der Lohnausfallsumme erstattet. Was für Schwenningen 787.558, 67 DM betrug. []
  12. StAVS Chronik 799, Schwabo v. 30.4.1963 Streikbeginn ohne Zwischenfälle in Schwenningen []
  13. StAVS Chronik 799, NQ 29.4.1963,  Heute wird in Schwenningen gestreikt. Versteifung der Fronten/ in Rottweil eine Vereinbarung abgeschlossen. []
  14. StAVS 4.9-691 Darstellung über den „Arbeitskampf in der Metallindustrie in Südwürttemberg-Hohenzollern im Frühjahr 1963, S. 4 []
  15. StAVS Chronik 799, NQ v. 2.5.1963 Aussperrung kam für viele überraschend. Die Arbeiter müssen nun haushalten/ Ein Gespräch mit Willy Bleicher, Stuttgart. []
  16. StAVS Chronik 799, NQ 2.5.1963 SPD mit streikenden Metallarbeitern solidarisch ebenso der schweizerische Gewerkschaftsbund. []
  17. StAVS Chronik 799,  Schwabo v. 29.4.1963 Von heute an wird gestreikt. In über 30 Betrieben der Metallindustrie / Kundgebung auf dem Marktplatz []
  18. StAVS Chronik 799, Schwabo v. 2. Mai 1963 Es geht um den arbeitenden Menschen. Die Mai-Kundgebung des DGB auf dem Marktplatz. []

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